Selbstheilung unseres Denkorgans: Vernetzt bleiben

Fällt bei einer Hirnverletzung ein Netzwerk aus, können teilweise andere Netzwerke einspringen und so die ursprünglich darin verarbeitete Fähigkeit am Laufen halten.

26. Juni 2018
In Deutschland erleiden jährlich etwa 260.000 Menschen einen Schlaganfall. Dadurch werden häufig wichtige Hirnregionen verletzt, in denen zuvor wesentliche geistige Fähigkeiten wie die Sprache verarbeitet wurden. Das Gehirn schafft es jedoch in vielen Fällen, diese Störungen auszugleichen und die Fähigkeiten wiederzuerlangen. Bisher ist allerdings nicht klar, wie das dem Gehirn insbesondere in schwerwiegenden Fällen gelingt, in denen das ursprüngliche Netzwerk beinahe vollständig ausgefallen ist. Gesa Hartwigsen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) könnte nun die Erklärung gefunden haben.

Dass unser Gehirn deutlich formbarer ist als gedacht, ist inzwischen weitgehend bekannt. Selbst nach einem Schlaganfall oder anderen Hirnverletzungen gelingt es ihm häufig, die ausgefallenen Areale und die bis dato dort verarbeiteten kognitiven Fähigkeiten teilweise auszugleichen. Manchmal schafft es das sogar in gravierenden Fällen, in denen ganze Netzwerke betroffen sind. Unklar ist bisher jedoch, wie es diese Herausforderung meistert.

Bei kleineren Störungen kann der ausgefallene Bereich häufig innerhalb des gleichen Netzwerkes kompensiert werden, etwa indem sein noch intakter Rest hochreguliert wird. „Wie es dem Gehirn jedoch gelingt, selbst größere Läsionen auszugleichen, bei denen zum Teil das gesamte verantwortliche Netzwerk verletzt ist, ist bisher kaum bekannt“, so die Neurowissenschaftlerin Gesa Hartwigsen, Leiterin der Forschungsgruppe „Modulation von Sprachnetzwerken“ am MPI CBS.

Hartwigsen und ihr Team haben in einer Studie einen neuen Weg beobachtet, durch den es dem Gehirn gelungen ist, eine Störung in einem speziellen Netzwerk auszugleichen: Nachdem das Netzwerk gestört war, in dem die Bedeutung der Sprache verarbeitet wird, hatte das Gehirn benachbarte Regionen aktiviert, die eigentlich für andere Funktionen zuständig sind. Dieses zusätzlich engagierte Netzwerk war vor allem für die Verarbeitung von allgemeinen kognitiven Prozesse wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis oder kognitiver Kontrolle zuständig, d.h. für die Fähigkeit, Prozesse überwachen und kontrolliert auswählen zu können. Durch diese zusätzlich aktivierten Kontrollprozesse konnte die Sprachverarbeitung weiterhin weitgehend unbeeinträchtigt ablaufen. Die Wissenschaftler vermuten daher, dass eine spezifische Störung ausgeglichen werden kann, indem das Gehirn allgemeine geistige Ressourcen vermehrt bereitstellt. Und nicht nur das: Sie gehen außerdem davon aus, dass es sich bei dem Mechanismus um einen generellen Weg des Gehirns handelt, Störungen zu kompensieren.

Ein Modell der Selbstheilung

Diese und die anderen bisher bekannten Möglichkeiten des Gehirns, Läsionen innerhalb eines Netzwerkes und über dessen Grenzen hinaus zu kompensieren, beschreibt Hartwigsen nun in einem Modell, das jüngst im Fachmagazin Trends in Cognitive Sciences veröffentlicht wurde. Dieses Modell basiert im Wesentlichen auf Studien, in denen bei Probanden mithilfe der sogenannten transkraniellen Hirnstimulation bestimmte Hirnareale mittels elektrischer Reize gezielt kurzzeitig gestört wurden. So konnte untersucht werden, wie das Gehirn reagieren könnte, wenn bestimmte Areale tatsächlich durch einen Schlaganfall oder andere Ereignisse ausfallen sollten – und welche Prozesse einsetzen könnten, um die Störung auszugleichen.

Basierend auf ihren Studien nimmt die Neurowissenschaftlerin an, dass das für spezifische geistige Fähigkeiten wie die Sprache generell auf zwei Wegen funktionieren kann: Einerseits können andere, noch intakte Hirnareale im selben Netzwerk einspringen, die auf die gleiche Funktion spezialisiert sind. Andererseits kann das auch durch die Aktivierung von Arealen eines benachbarten Netzwerks geschehen. „Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die zusätzlich mobilisierten Kapazitäten die ursprüngliche Fähigkeit komplett abdecken können. Im Falle der Sprache würden dann etwa bestimmte Defizite bleiben“, fügt sie hinzu. „Generell ist diese kurzzeitigen Anpassung, auch Neuroplastizität genannt, vermutlich ein fundamentaler Prozess, durch den wir einerseits Störungen ausgleichen und uns andererseits an eine sich ständig verändernde Umwelt anpassen können.“ Auch im alternden Gehirn spiele er eine grundlegende Rolle.

Die bisherigen Beobachtungen dazu beruhen im Wesentlichen auf Studien mit transkranieller Hirnstimulation an gesunden Probanden. Gesa Hartwigsen würde daher bisher von einem Modell sprechen, das nun durch weitere Studien mit einer größeren Zahl an Teilnehmern untermauert und auch an Patienten mit Hirnläsionen nach einem Schlaganfall überprüft werden muss.

Ziel der Forschung ist es, zunächst das gesunde Netzwerk für verschiedene kognitive Funktionen zu verstehen, um so besser nachvollziehen zu können, welche Prozesse etwa nach einem Schlaganfall einsetzen – und wie sich diese gezielt fördern lassen. Sollten sich die Vermutungen bestätigen, könnte das beispielsweise für die Rehabilitation nach einem Schlaganfall bedeuten, dass nicht nur an der spezifischen Funktion wie der Sprache gearbeitet wird, sondern auch an allgemeinen Prozesse, vor allem wenn die spezifischen Fähigkeiten besonders beeinträchtigt sind. Neben Sprachübungen könnte etwa gleichzeitig das Arbeitsgedächtnis gefördert werden, indem der Betroffene übt zu zählen.

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