Der kurze Pfad zur Tat - funktionelle Neuroanatomie des Frontallappens

Warum gerade das Stirnhirn so stellvertretend für "das Menschliche" steht, erklären drei nackte Zahlen: Bei Hunden macht der Doppellappen ganz vorn im Kopf sieben Prozent der Großhirnrinde aus, bei Affen bis zu 17 Prozent, bei Menschen mehr als 30 Prozent. Vom Volumen her so mächtig, hätte man erwarten können, dass dieses Areal direkt auf Sinnesreize anspricht. Doch das Stirnhirn beschäftigt sich nicht mit der primären Verarbeitung von Licht und Schall, Geruch, Geschmack und Tastempfindungen. Hinter der menschlichen Denkerstirn geht es um Höheres. Gefüttert von den Nervensignalen der sinnesverarbeitenden Zentren, zu denen er ausgezeichnete Beziehungen pflegt, beschäftigt sich der frontale Kortex vor allem mit so genannten exekutiven Funktionen. Solch abstrakte Prozesse wie Planen und Voraussicht, Urteilen und Handeln untersucht am MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften die Arbeitsgruppe "Funktionelle Neuroanatomie des Frontallappens" um Direktor D. Yves von Cramon.

All diese essentiellen Fähigkeiten kreiert das Stirnhirn mit dem Rest des Gehirns in einer positiven Rückkopplungsschleife - sozusagen mit echoartigem Widerhall. Wird aus der Außenwelt ein Reiz registriert, filtern die beteiligten neuronalen Netzwerke sein besonderes Merkmalsprofil heraus und schicken ihn so lange zwischen den zuständigen Hirngebieten hin und her, bis sich herauskristallisiert, worum es sich handelt und wie der Mensch zu reagieren hat. Auch gilt die Frontalregion als unverzichtbar für das "Arbeitsgedächtnis" - eine Art Zwischenspeicher, der beispielsweise Erinnerungsbruchstücke dem richtigen Kontext zuweist oder aktiv wird, wenn Menschen sich unterhalten. Denn um einen gesprochenen Satz zu verstehen, muss man am Ende wissen, wie er anfing.

Noch vor 30 Jahren galt der Frontallappen als rätselhafteste Hirnregion überhaupt. Allmählich aber gewinnen die kognitiven Neurowissenschaftler ein genaueres Bild des Geschehens. Dabei kapriziert sich das MPI-Team nicht allein auf die meist stark beachteten seitlichen Gebiete des Stirnhirns, sondern auch auf den prämotorischen und den frontomedianen Kortex (FMK). Wann immer ein Mensch eine Absicht in Handlung umsetzt, sei es das Tranchieren eines Hähnchens oder der Mord aus Rache, glühen die Nervendrähte zwischen diesen drei Regionen. Besonders heiß läuft der FMK, wie ganze Versuchsserien belegen. Seine zentral im Stirnhirn gelegenen Abschnitte beeinflussen fast alle handlungserzeugenden Prozesse, die untrennbar mit innerer Anstrengungsbereitschaft verbunden sind - jenem geheimnisvollen Antrieb, "die Dinge" in die Hand zu nehmen. Im Stirnhirn befindet sich der innere Motor des Menschen, ein unverzichtbarer Teil seines "Selbst". Immer wenn "das Selbst" den Menschen zum Handeln regelrecht anstiftet, feuern die Nervenzellen des FMK. Dieses Konzept entspricht nach Ansicht von D. Yves von Cramon der Evolution des menschlichen Gehirns. Stets war Homo sapiens gezwungen, von sich aus in einer komplexen Umwelt zur Tat zu schreiten.

Wie unzertrennlich der FMK und das "exekutive Selbst" sind, zeigt ein einfaches, aber eindrucksvolles Experiment. Darin sollten die Testpersonen auf Aussagen mit unterschiedlichen Graden an Subjektivität reagieren, während ihr Gehirn mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) durchleuchtet wurde. Bei Sätzen wie "Leipzig ist eine Stadt in Deutschland" handelte es sich um neutrales Weltwissen. Beim Satz "Ich war schon mal in Leipzig" spielte die Geschichte der eigenen Person bereits eine Rolle. Im dritten Experiment sollten die Leute schließlich urteilen: "Ich finde, Leipzig ist eine schöne Stadt - ja oder nein?" Die Antwort auf diese Frage hängt so eng mit dem Selbstverständnis der Person zusammen wie die Vorliebe für blonde Frauen oder große Männer.

Tatsächlich leuchteten auf den fMRT-Aufnahmen nur im dritten Fall die vorderen Abschnitte des FMK auf, obwohl alle Sätze auf demselben Stimulus, nämlich "Leipzig", basieren. Diese spezielle Aktivierung zementiert den Bezug des FMK zum "Selbst". Auch weitere Experimente des MPI-Teams belegen die Bedeutung des FMK als innerer Motor. Mehr noch: Der FMK kontrolliert auch die menschlichen Handlungen - und ihre möglichen Fehler. Schon das bloße Erkennen von Fehlern ist lebensnotwendig. Wie aber sieht die Hirnaktivierung aus, wenn die Testpersonen Fehler gemacht haben? Und was passiert, wenn sie Aufgaben lösen müssen, die wegen widersprüchlicher Informationen einen inneren Konflikt hervorrufen?

Ein vermeintlich einfacher Versuch sollte Klärung bringen. Die Testpersonen blickten auf einen Bildschirm, in dessen Zentrum immer wieder ein Pfeil eingeblendet wurde. Nach dem Zufallsprinzip wies er entweder nach links oder nach rechts. Die Versuchsteilnehmer waren gehalten, binnen einer knappen halben Sekunde per Knopfdruck die Richtung zu benennen. Allerdings wurden sie in ihrer Entscheidung durch flankierende Pfeile beeinflusst, die schon kurz vor dem eigentlichen Pfeil erschienen. Wiesen sie in die gleiche Richtung, nahm die Quote der richtigen Antworten zu. Die Rate der falschen Reaktionen stieg, sofern die anderen Pfeile entgegengesetzt waren. In diesem Fall wird das Gehirn irritiert und trägt auf dem Weg zur Handlung einen Konflikt aus.

Derlei neuronaler Widerstreit ist allgegenwärtig. Um zu handeln, muss das Steuerorgan im Kopf unentwegt Widersprüche beseitigen und Hindernisse aus dem Weg räumen. Dabei gilt es, Prioritäten zu setzen - sonst kämen wir nicht voran. Der frontomediane Kortex kann solche "Antwortkonflikte" lösen. In ihren Pfeil-Versuchen ermittelten die Wissenschaftler eine deutliche Aktivierung im FMK, genauer gesagt im vorderen Abschnitt des so genannten "prä-SMA" ("prä-supplementärmotorisches" Areal) - aber nur dann, wenn die Pfeile in die falsche Richtung zeigten. Gaben die Testpersonen eine unkorrekte Antwort, leuchtete sofort der so genannte CMA auf ("cingulate motor area"). Sinnigerweise pflegt dieses Aral direkte motorische Verbindungen ins Rückenmark, das wiederum Signale zu den Muskeln schickt. So bringt das Gehirn, völlig automatisch, eine Korrektur auf den Weg. Und die Fehlerbewertung setzt extrem schnell ein, wie das MPI-Team mit der Elektroenzephalographie (EEG) nachgewiesen hat. Schon 100 Millisekunden nach der falschen Antwort erscheint im EEG-Bild eine typische Welle, die "error-related negativity".

Wahrscheinlich arbeitet neben diesem Korrektursystem ein zweites, das noch auf dem kurzen Pfad von der Absicht zur Handlung alle Prozesse prüft - ehe man die Zuckerdose über den Spaghetti ausgeschüttet hat oder den genialen Pass in die Tiefe spielt. Ergebnisse wie diese beschreiben den frontomedianen Kortex viel feiner als zuvor. Dass er mit dem inneren Antrieb zusammenhängt und auch mit der Entscheidungsfähigkeit, darauf deuteten schon Studien mit Menschen, die im Stirnhirn verletzt oder geschädigt sind. Manche der Patienten handeln vorschnell und unüberlegt, missachten wichtige Informationen, wechseln ständig ihre Pläne, machen pausenlos Fehler, ohne es zu bemerken.

Lange Zeit ließen sich diese Defizite keiner genauen Region im Stirnhirn zuordnen. Inzwischen versucht das MPI-Team, Störungen der automatischen Fehlerkontrolle örtlich einzukreisen. So untersuchte es Gruppen von Hirnverletzten mit dem Pfeilversuch und fand heraus, dass natürlich auch der präfrontale Kortex (PFC) seine Nerven im Spiel hat. Doch anders als sein medianer Nachbar, der Handlungen innerlich anschiebt, übernimmt er die Umstellung einmal automatisierten Verhaltens, sofern es die Umwelt erfordert. Jeder kennt beispielsweise die Probleme, wenn man in Großbritannien ein für den Linksverkehr konzipiertes Auto mietet. Plötzlich ist der Schalthebel links statt rechts und der Blinker rechts statt links. Ein Fall für den PFC.

Wie diese Region agiert, zeigt eine weitere Studie des von-Cramon-Teams, basierend auf dem "Stroop-Test". Bei diesem Standard-Verfahren der experimentellen Psychologie werden den Testpersonen Wörter gezeigt, die Farben bezeichnen. Die Farbnamen sind in einer anderen Farbe gedruckt als jene, die der jeweilige Begriff angibt. Das Wort "rot" erscheint beispielsweise in blauer Schrift. Das Problem: Das Lesen des Wortes ist so automatisiert, dass man diesen Prozess kontrolliert unterdrücken muss, um statt dessen die Farbe zu benennen. Diese "Interferenz" genannte Leistung schaffen auch gesunde Menschen nur bedingt, hirnverletzte Patienten mit geschädigtem PFC hingegen fast nie.

Noch komplizierter wird die Situation, wenn Aufgaben rasch wechseln. Was dann im Gehirn vorgeht, haben die MPI-Forscher studiert. Die Testpersonen sahen je eine Zahl zwischen 20 und 40 und mussten zunächst per Tastendruck entscheiden, ob sie größer oder kleiner 30 ist. Bei der zweiten Aufgabe indes sollten sie bestimmen, ob sie gerade oder ungerade ist. Dann wechselte die Aufgabe von Zahl zu Zahl, und das verlängerte die Reaktionszeiten deutlich. In den Hirnbildern zeigte sich das durch eine Aktivierung des PFC. Drei Prozesse scheinen beteiligt: Erstens: Die Unterdrückung des zunächst gewohnten Schemas. Zweitens: Die Umstellung auf die neue Aufgabe. Drittens: Die Aktivierung des Arbeitsgedächtnisses, weil das Gehirn beim schnellen Aufgabenwechsel beide Handlungskonzepte zwischenspeichert.

Bezogen auf den Linksverkehr bedeutet dies, dass der PFC ein neues Handlungsschema - Schalten mit links, Blinken mit rechts - starten und aufrecht erhalten muss. Trotzdem schleicht sich die Gewohnheit immer wieder ein. Der PFC kann ein neues Verhalten nicht umgehend perfektionieren - und schon gar nicht ohne seine engen Verbündeten im Stirnhirn. Beispielsweise muss er Verbindungen zum prämotorischen Kortex knüpfen, den das Team um den MPI-Direktor ebenfalls untersucht. Dieses Hirnareal koordiniert die Abfolge der einzelnen Schritte eines Handlungsschemas. Derlei flexible Prozesse brauchen also Zeit.

Dass sie grundsätzlich machbar sind, hat die Evolution der Affen und besonders des Menschen entscheidend beflügelt. Wie kein anderes Lebewesen schafft es Homo sapiens, sich der Dominanz eines Handlungsschemas zu entziehen. Die meisten Tiere reagieren stets mit ihrem angeborenen Muster, der Mensch kann dem entfliehen. Folgerichtig legte das Volumen des Stirnhirns in der Evolution der Säugetiere beispiellos zu. Und folgerichtig erlaubte dem Menschen erst jenes flexible planerische Geschick, die Umwelt in seinem Sinne zu beeinflussen und sich beispiellos zu entwickeln - bis zum Flug auf den Mond und der Entzifferung seines eigenen Genoms. Mit rein reflexiver Logik wäre das unmöglich gewesen. Und wer so zu handeln vermag, dem fällt es leichter, seine Triebe zu kontrollieren, was den Weg für neue soziale Verhaltensweisen geebnet hat. Beispielsweise lernen Kinder durch Erziehung, was in der Öffentlichkeit erlaubt ist und was nicht. Auch daran ist der PFC beteiligt. Wird er lädiert, können die Patienten den Zugriff auf soziale Regelwerke verlieren. Sie wirken takt-, distanz- und rücksichtslos, nehmen offene oder versteckte Signale des Missfallens nicht mehr wahr.

Gleich ihren Kollegen in vielen Labors der Welt liefern die MPI-Forscher mit ihren Daten der funktionellen Bildgebung Wissenssplitter eines großen Ganzen. Vermutlich laufen hunderttausende Prozesse allein im Stirnhirn parallel. Wie zum Beispiel der frontomediane und der frontolaterale Kortex ihre Teilfunktionen harmonisieren, bleibt einstweilen ungelöst. Doch vermutlich ist die Abstraktionsfähigkeit des Stirnhirns so groß, dass hinter den Splitterprozessen ein gemeinsames geniales Prinzip steht. Nur so können wir im Chaos der hereinströmenden Informationsflut und dem inneren Tohuwabohu in jedem Augenblick das Richtige tun - meistens zumindest.

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