"Unser Gedächtnis ist nicht für die Vergangenheit, sondern die Zukunft gemacht"

Vergessen ist keineswegs nur eine Schwäche, sondern oft ein aufwändiger, aktiver Prozess. Wie sich einerseits Erinnerungen gezielt löschen lassen, und uns Episoden aus der Vergangenheit andererseits dazu dienen, in der Zukunft zu funktionieren, erforscht Roland Benoit seit Anfang Mai in seiner neuen Forschungsgruppe Adaptives Gedächtnis.

9. Mai 2016

Ständig sind wir darum bemüht, möglichst nichts zu vergessen – sei es der Geburtstag der Mutter, der nächste Arzttermin oder auch das Wesentliche aus Politik und Gesellschaft. Besorgt schauen wir zudem auf das Alter, weil wir fürchten, vergesslicher zu werden. Das Vergessen hat einen schlechten Ruf.

Dabei ist es keineswegs nur eine Schwäche oder ein Anzeichen nachlassender Hirnleistung. Vielmehr ist es oft ein aktiver Prozess, der mit hohem Aufwand verbunden ist - insbesondere dann, wenn die Erinnerung übermächtig ist und sich gar zum Trauma entwickelt hat.

Doch wie funktioniert das genau, absichtlich zu vergessen? Dieser Frage geht Roland Benoit seit Anfang Mai als Leiter der neugegründeten Forschungsgruppe für Adaptives Gedächtnis am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig nach. Dabei interessiert ihn nicht nur, wie sich ungewollte Erinnerungen unterdrücken lassen, sondern auch, wie wir Episoden aus der Vergangenheit nutzen, um unsere Zukunft zu simulieren. Ein Gespräch über Vergessen und Erinnern, Vergangenheit und Zukunft.

Herr Benoit, in unserem Alltag nutzen wir Terminplaner und Merkzettel, um Vergessen möglichst zu vermeiden. Sie erforschen hingegen, wie wir absichtlich vergessen. Warum?

Weil unser Gedächtnis eine fantastische evolutionäre Entwicklung ist, durch die wir zwar beispielweise Erinnerungen an positive und negative Erlebnisse nutzen können, um gute Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Dennoch ist es sicher nicht hilfreich, sich immer an alle negativen Dinge zu erinnern, die einem widerfahren sind. Deutlich wird dies vor allem bei Menschen, die unter spontanen, ungewollten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse leiden. Generell erleben wir aber auch in unserem Alltag viele Erlebnisse, auf deren Erinnerungen wir gerne verzichten würden.

Können Sie mir ein Beispiel geben?

Stellen Sie sich vor, Sie hatten einen Streit mit Ihrem Partner. Das nächste Mal, wenn Sie Ihren Partner sehen, werden Sie sich wieder daran erinnern, obwohl Sie die Sache abhaken und nach vorn schauen wollen. In einer solchen Situation, in der wir motiviert sind, uns nicht an ein früheres Erlebnis zu erinnern, scheint es möglich, aufkommende Erinnerungen zu unterdrücken und schließlich zu vergessen. Wie das genau funktioniert, möchte ich herausfinden. Prinzipiell scheint es zwei Mechanismen zu geben, um Erinnerungen aktiv aus unserem Gedächtnis zu streichen.

Wie sehen diese aus?

Stellen sie sich vor, Sie sitzen in einem Auto, das automatisch, in hohem Tempo auf den unerwünschten Gedächtnisinhalt zusteuert. Sie können nun den Zusammenstoß mit der unerwünschten Erinnerung auf zwei Arten vermeiden:
Zum einen, indem Sie stark auf die mentale Bremse treten und so versuchen, den Erinnerungsprozess rechtzeitig zu stoppen - durch direktes Unterdrücken also. Dafür sind zwei Gehirnstrukturen entscheidend. Eine davon ist der Hippocampus, der uns wie eine Art Motor zur kompletten, unerwünschten Erinnerung treibt, wenn es die zweite entscheidende Struktur nicht gäbe: Den präfrontalen Kortex im vordersten Bereich des Gehirns. Ein Teil des rechten präfrontalen Kortex scheint als Bremse zu dienen, die den Hippocampus – und damit das Erinnern – ein Stück weit ausschaltet.

Und die zweite Art des absichtlichen Vergessens, wie funktioniert die?

Statt auf die mentale Bremse zu treten, um nicht auf die unerwünschte Erinnerung zuzurasen, können Sie auch versuchen, dieser auszuweichen und auf eine andere Erinnerung zuzufahren. Wenn Sie beispielsweise Ihren Partner wiedersehen, können Sie statt an den Streit an das schöne Abendessen mit ihm beim Italiener denken. Die alternative Erinnerung blockiert damit den Zugang zu den ungewollten Gedächtnisinhalten. Hier stoppen Sie also nicht jegliche Erinnerung, sondern beeinflussen den Erinnerungsprozess gezielt, um die Gedanken an ein anderes vergangenes Ereignis anzusteuern. Bei diesem Ersatz-Erinnern wird der Hippocampus nicht etwa gebremst, sondern gezielt genutzt. Dabei dienen Teile des linken präfrontalen Kortex als eine Art Steuerrad, die den Hippocampus und damit den Erinnerungsprozess in die richtige Bahn lenken.  
Diese beiden Mechanismen des aktiven Vergessens, das direkte Unterdrücken und das Ersatz-Erinnern, können uns also kontinuierlich helfen, die Kontrolle über unsere Erinnerungen zu bewahren. Bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen scheinen diese jedoch beeinträchtigt zu sein.

Wann kommt dabei welcher der beiden Mechanismen zum Einsatz?

Das ist derzeit noch eine offene Frage. Ich denke, dass es bei besonders starken Erinnerungen möglicherweise einfacher ist, diese durch eine andere Erinnerung zu ersetzen, als den Erinnerungsprozess komplett zu stoppen. Ob dies aber auch der effektivere Mechanismus ist, um die Erinnerungen langfristig unter Kontrolle zu kriegen, ist eine der vielen Fragen, die meine Forschungsgruppe weiter untersuchen wird.

Was passiert im Anschluss daran mit unseren ungewollten Erinnerungen? Werden sie tatsächlich aus unserem Gedächtnis gelöscht oder gelangen sie nur ins "Hinterstübchen", ins Unbewusste? Gibt es also echtes Vergessen vorher verankerter Erinnerungen wirklich?

Tatsächlich scheint beides möglich zu sein. Wenn Sie erfolgreich immer an den Restaurantbesuch mit Ihrem Partner statt an den Streit gedacht haben, kann diese erfreuliche Erinnerung einfach wesentlich stärker werden. In diesem Fall blockiert sie vielleicht nur den Zugang zur unerwünschten Erinnerung.
Wir und andere Forscher haben aber auch gezeigt, dass beide Mechanismen zum tatsächlichen Vergessen der Erinnerung selbst führen können. In diesem Fall wäre es Ihnen nicht mehr möglich, sich an bestimmte Details des Streits zu erinnern, selbst wenn wir Sie direkt danach fragen. Solche unterdrückten Erinnerungen scheinen dann auch nicht mehr unbewusst unser Verhalten beeinflussen zu können.

Diese Verdrängungsmechanismen laufen also nur ab, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden?

Nein, vermutlich nicht nur. Die Forschung meiner Arbeitsgruppe fokussiert sich zwar auf das bewusste, absichtliche Vergessen. Allerdings vermute ich, dass wir im Alltag unbewusst dieselben Prozesse nutzen. Wenn wir beispielsweise die Erinnerung an eine peinliche Situation loswerden wollen, setzt wahrscheinlich oft unbewusst ein Unterdrückungsmechanismus ein. 

Spielt absichtliches Vergessen nur im Zusammenhang mit negativen Ereignissen eine Rolle?

Nein, auch das nicht. Oft haben wir zum Beispiel einfach sehr ähnliche Informationen in unserem Gedächtnis abgespeichert. Wenn Sie sich etwa an Ihre neue Telefonnummer erinnern wollen, kann es sein, dass Sie nur an die wohl bekannte alte denken können. In diesen Situationen scheinen wir einen ähnlichen Mechanismus zu nutzen, um gezielt die stärkere Erinnerung an die alte Nummer zu schwächen und somit die neue abrufen zu können.

Sie untersuchen in Ihrer neuen Forschungsgruppe nicht nur, wie wir Erinnerungen löschen oder umschreiben können, sondern auch, wie sie uns dazu dienen, in der Zukunft zu funktionieren. Das müssen Sie uns genauer erklären.

Im Grunde ist unser Gedächtnis nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft gemacht. Dabei darf man es sich nicht als etwas Passives wie ein Video vorstellen, auf dem ich mir genau anschauen kann, was passiert ist. Vielmehr erinnern wir uns meist nur an einzelne Teile unserer Erlebnisse und füllen unbewusst die Lücken mit unserem allgemeinen Wissen aus. Erinnern ist also ein konstruktiver Prozess. Unsere Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, beruht genau auf diesem konstruktiven Gedächtnis. Wie würde es beispielsweise aussehen, mit einer bestimmten Person in einem bestimmten Restaurant essen zu gehen? Um uns diese Situation vorzustellen, können wir Erinnerungen an das Restaurant mit solchen an die Person verknüpfen, um uns so ganz neue Erlebnisse auszumalen und darüber entscheiden, ob wir uns wirklich mit dieser Person in diesem Restaurant treffen wollen.

Was wollen Sie in diesem Bereich, dem konstruktiven Gedächtnis, genau herausfinden?

Zum einen interessiert mich, wie unser Gehirn dazu fähig ist, die Zukunft zu simulieren. Wir wissen bereits, dass dabei dieselben Gehirnregionen aktiv sind, die auch während des Erinnerns zum Einsatz kommen. Jedoch verstehen wir noch nicht, welcher Region welche Rolle zukommt. Mich interessiert hier zum einen die Funktion des sogenannten medialen präfrontalen Kortex, der uns vermutlich hilft vorherzusagen, wie emotional wir auf bestimmte Ereignisse reagieren würden.
Zum anderen möchte ich wissen, warum es überhaupt wichtig ist, sich die Zukunft mit Hilfe von Erinnerungen vorzustellen. Denn zum einen können wir dadurch zwar weitsichtigere Entscheidungen treffen. Zum anderen ist es jedoch nicht immer vorteilhaft, sich ständig die Zukunft vorzustellen.

Wie meinen Sie das?

Wenn wir beispielsweise Angst vor bestimmten Situationen in der Zukunft haben, könnten solche Zukunftssimulationen die Ängste weiter verstärken und noch plausibler erscheinen lassen. In diesen Momenten könnte es also besser sein, nicht dauernd die Zukunft durchzuspielen, sondern diese Gedanken zu unterbrechen. Hier möchte ich genauer untersuchen, ob wir Mechanismen der Verdrängung auch nutzen, um unsere Zukunftssimulationen zu stoppen.

Plädieren Sie also dafür, das Vergessen mehr zu schätzen?

Ja! Jedoch will ich mit meiner Forschung keineswegs dazu aufrufen, alle schlimmen Erlebnisse in seinem Leben einfach zu vergessen. Oft sind es gerade die schwierigen Momente im Leben, die wir in unser Selbstbild integrieren müssen und die uns letztlich auch zu einem guten Teil ausmachen. Jedoch ist es wiederum auch nicht gesund, sich immer an alles Schlimme zu erinnern, was einem je passiert ist oder in der Zukunft widerfahren könnte.

Herr Benoit, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte Verena Müller, Wissenschaftsredakteurin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

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