„Generelle Organisationsprinzipien verstehen, um komplexe Strukturen wie das Gehirn zu begreifen“

19. Februar 2021
Bislang hat er sich viel mit Stammzellen und Zebrafischen beschäftigt, jetzt widmet er sich Neuronen und dem Gehirn: Nico Scherf, Leiter der neugegründeten Methodengruppe „Neuronale Datenwissenschaft und statistisches Rechnen“ am MPI CBS. Viele Grundprinzipien der Embryonalentwicklung dieser Tiere, da ist sich Scherf sicher, spiegeln sich auch in komplexen Strukturen wie dem Gehirn wider. „Solche Selbstorganisationen von einfach bis komplex zu verstehen, interessiert mich sehr.“ Ein Gespräch über regelmäßige Muster in der Natur, die Kommunikation von Ameisen und den Zugang zu immer größeren Datenmengen.

In Ihrer Forschung soll es um „neuronale Datenwissenschaften“ gehen. Was verbirgt sich genau dahinter?

Wir wollen Methoden entwickeln, mit denen sich komplexe Daten auswerten und darin Muster erkennen lassen. Daten sind ja wie eine Art Landschaft in diesen hochdimensionalen Räumen. Bislang habe ich hier viel mit Einzelzellanalysen gearbeitet. Man kann etwa in der Embryonalentwicklung  beobachten, wie sich die Zellen teilen und bewegen und welche Muster sich dabei ergeben. Sequenziert man gleichzeitig diese Zellen, also ihre Gene, erkennt man, dass sie auch unterschiedliche genetische Konfigurationen haben. Jetzt wäre es zum Beispiel interessant zu wissen, wie beides zusammenhängt, wie das eine das andere bedingt. Und ja, es scheint wirklich in beiden Perspektiven bestimmte Entwicklungswege zu geben, die die Zellen gehen. Eine Stammzelle hat zum Beispiel ein bestimmtes genetisches Profil und entwickelt sich daraus in verschiedene Richtungen und differenziert sich  dann in spezielle Zelltypen. Und manchmal kann sich durch einen „falschen“ Weg dann leider auch Krebs entwickeln.

Solche sich selbstorganisierenden Strukturen und Abläufe lassen sich natürlich auch im Gehirn erkennen – und auch entsprechende Abweichungen davon, zum Beispiel Alzheimer-Erkrankungen. Wir wollen dazu beitragen, solche Muster und mögliche Unregelmäßigkeiten, die auch zu Krankheiten führen können, maschinell zu erkennen. Denn die Daten, die an einem Patienten erfasst werden können, kann sich inzwischen niemand mehr manuell anschauen. Dazu braucht es automatisierte Auswertungsverfahren.  

Und mich interessiert besonders, wie man solche komplexen Daten überhaupt erstmal visualisieren kann. Also wie man sie so aufbereitet, dass man sie weiter erkunden kann. Wenn die Messungen immer komplexer werden, wird es auch immer schwieriger, die Daten auch auszuwerten. Da reicht oft die einfache Statistik nicht. Meine Vision ist es, Landkarten von komplexen Daten erzeugen zu können, mit denen der Wissenschaftler oder der Arzt dann die Zusammenhänge besser verstehen kann.

Welche Ihrer Arbeiten haben Sie dabei bislang besonders geprägt?

Am meisten hat mir bislang immer die Visualisierung von Daten Spaß gemacht. In unserem Paper in Nature Communication haben wir etwa veranschaulicht, wie sich in einem Zebrafisch während der Embryonalentwicklung die Zellen organisieren. Und wie sich die verschiedenen Zelltypen dann entlang der embryonalen Körperachse anordnen und somit letztendlich den Bauplan für die Organe festlegen. Es ging darum, diese neue Art Daten so aufzuarbeiten, dass man damit weiterarbeiten und biologische Fragen beantworten kann. Dabei haben wir wiederum Methoden verwendet, die hier am Institut entwickelt wurden, um Nervenbahnen im Gehirn besser sichtbar zu machen. Mit diesen Methoden konnten wir dann sehr gut die gemeinsamen Muster in der Bewegung von etwa 10.000 Zellen darstellen.

Besonders gemocht habe ich auch ein Projekt mit Jan Huisken, in dem wir uns Gedanken darüber gemacht haben, wie man „intelligente Mikroskope“ konstruieren müsste, damit man komplexe Systeme über verschiedene Skalen hinweg erforschen kann. Dazu sollte das Mikroskop nicht blind alles aufnehmen, sondern bei jeder Messung „dazulernen“, etwa durch ein statistisches Modell. Beim nächsten Mal müsste es dann dort messen, wo wir noch zu wenig wissen. Dadurch wären die Datenmengen viel kleiner und man würde auch viel schonender messen. Gerade bei lebenden Zellen haben viele Mikroskope bislang oft Artefakte gemessen, weil die Zellen die Messung nicht immer unbeschadet überstanden haben. Die Idee der skalenübergreifenden Bildgebung ist natürlich auch sehr interessant für die Neuroanatomie. In meiner Zeit als PostDoc hier an der Neurophysik war ich an einer Studie zusammen mit dem Paul-Flechsig-Institut beteiligt, in der wir erste Ideen in einem NeuroImage-Paper darüber herausgebracht haben, wie man Mikroskopie und MRT zusammenbringen kann.

Sie haben sich viel mit Embryonalzellen vom Zebrafisch beschäftigt. Was haben die mit Neuronen im Gehirn zu tun?

(lacht). Das möchte ich den Zellbiologen überlassen. Nur soviel: Selbst, oder gerade, in einfachen Organismen lässt sich gut beobachten, wie einzelne Zellen miteinander umgehen. Zellen können ihre Umwelt „wahrnehmen“ und sich auch miteinander austauschen, etwa über Botenstoffe und Rezeptoren, und schaffen es so letztendlich ja auch, einen kompletten Embryo zu bauen. Solche generellen Organisationsprinzipien auf einfacher Ebene zu verstehen, ist grundlegend, um irgendwann zu begreifen, wie sich komplexe Lebewesen oder Strukturen, wie etwa das Gehirn, in der Natur selbstorganisieren. Bis heute weiß man ja nicht, warum eine große Mengen an Neuronen plötzlich denken kann oder wann genau das passiert. Solche Selbstorganisation vom Einfachen bis hin zum Komplexen zu verstehen, ist tatsächlich etwas, was mich sehr interessiert. Ich bin mir sicher, dass es da in der Natur generelle Grundregeln in der Selbstorganisation gibt, die immer wieder auftreten.

Inwiefern?

Selbst wenn man nur relativ einfache Dinge hat, die aber miteinander interagieren können. Nehmen wir eine einzelne Ameise. Die ist (ähnlich wie eine einzelne Zelle) vielleicht an sich nicht besonders schlau. Sie kann aber mit den anderen Artgenossen kommunizieren. Der ganze Ameisenstaat ist dann im Grunde der eigentliche Organismus, der funktioniert und recht komplexe Aufgaben lösen kann. Einiges von dem, was etwa Deborah Gordon, eine der führenden Ameisenforscherinnen, über die Organisationsmechanismen von Ameisen gefunden hat, lässt sich vermutlich auch auf Zellen anwenden – und womöglich auch auf komplexe Systeme wie neuronale Netze. Sie hatte zum Beispiel gezeigt, dass Ameisen, wenn sie entscheiden müssen auf welcher Route sie nach Futter suchen, die gleiche „Taktik“ verwenden wie wir, wenn wir unsere Computernetze effizient nutzen wollen. Ich will in Zukunft auch Methoden untersuchen, um diese grundlegenden Prinzipien zu simulieren. Wieviel Kommunikation braucht es zum Beispiel, damit das Gesamtkonstrukt verlässlich funktioniert?

Neben dieser Forschung ist das Hauptziel Ihrer neuen Gruppe, andere WissenschaftlerInnen am Institut in ihrer Arbeit zu unterstützen. Wie soll das aussehen?

Genau, wir wollen anderen WissenschaftlerInnen im Umgang mit ihren Daten helfen, von klassischer Statistik bis zum Machine Learning. Wir interessieren uns da für die ganze Bandbreite an Daten, die hier am Institut eine Rolle spielen, etwa  MRT-Bilder, EEG-Daten oder genetische Daten und auch für die unterschiedlichsten Fragestellungen, die dahinter stecken. Da bin ich sehr gespannt, was sich da so herauskristallisiert. Jede Art von Messung schaut da ja auch von einer anderen Perspektive auf den Menschen, je nachdem, ob man etwa Blut abnimmt oder einen Hirnscan macht. Letztlich wollen wir natürlich auch hier gern wissen, wie wir die Messwerte aus den verschiedenen „Blickwinkeln“ miteinander zusammenbringen können und ob wir hier bestimmte Muster finden können, die uns letztlich helfen, das Gehirn und seine Funktion besser zu verstehen.

Und wir wollen auch verschiedene Kurse anbieten, zum Beispiel zu Python oder künstlicher Intelligenz, oder auch spezielleren Themen wie Probabilistic Programming, einer Methode mit der man relativ komplexe statistische Modelle bauen und dann mittels gemessener Daten analysieren kann.

Wir sind gespannt. Vielen Dank für das Gespräch.

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