Harmonie im Hirn - jeder ist musikalisch

"Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum", philosophierte Friedrich Nietzsche. Und für Napoleon hatte Musik "von allen Künsten den tiefsten Einfluss auf das Gemüt".

Der Mensch und die Musik - das ist eine innige Verbindung seit vermutlich mehr als 40000 Jahren. Mit der Musik hat sich der Mensch ein sehr eigenes Universum des Klangs erschlossen, das seinen Alltag überall durchdringt. Es gibt Völker, die den Begriff der musikalischen Begabung gar nicht kennen - so selbstverständlich ist dieses Phänomen. Wann immer ein Stamm im Kongo, in Neu-Guinea oder in Brasilien zusammenkommt, heizen Trommeln und Rasseln die Stimmung an. Die Artgenossen in den westlichen Ländern lauschen andächtig Bachschen Fugen; in den Diskos erschauern Tänzer im Hämmern der Bässe. Für Stefan Koelsch vom MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften ist nach einer Reihe von Experimenten klar: "Jeder ist musikalisch, sogar sehr musikalisch."

Die Versuchsteilnehmer hätten zunächst widersprochen. Der Psychologe hatte gezielt Menschen ausgesucht, die sich selbst als unmusikalisch bezeichneten, und dabei nicht ahnten, worum es wirklich ging. Sie gehören zu jener Gilde, die nur mit Schrecken an die Musikstunden in der Schule denken und Vorsingen eher als bloßstellendes Vorführen empfanden. Schon derlei Banalitäten zeigen, dass die Musikalität des Menschen ein kniffliges Thema ist - erst recht aus wissenschaftlicher Sicht. Die Frage ist, ob die Forschung nachweisen kann, dass Musik ein wirklich allen Menschen eigenes Phänomen mit biologischem Ursprung ist. Falls ja, dann müsste ihr Gehirn unbewusst auch Verletzungen einer musikalischen Grammatik entlarven, die bewusst nur ein Profimusiker bemerken würde. Um den stummen "Aufschrei" der Nervenzellen im Kopf im Moment eines "falschen" Tones abzuhören, wurden über 200 Testpersonen mit der typischen "Hightech-Badekappe" verkabelt, die über 64 einzelne Elektroden das EEG, also die Hirnströme der Versuchsteilnehmer überwacht.

Derart ausgerüstet, bekamen sie Akkorde zu hören, die im Computer erzeugt wurden, aber aus Werken von Bach bis Beethoven stammten. Diese in der klassischen Musik üblichen Dur- und Mollklänge wurden zuvor zu Sequenzen von fünf Akkorden zusammengesetzt und an verschiedenen Stellen manipuliert. Bei den einen wechselte mitten in der Akkordfolge das Instrument. Bei anderen störten erkennbar unpassende Töne die Harmonie. Entscheidend aber waren die so genannten "Neapolitanischen Sext-Akkorde", von denen keiner der vermeintlich musikalisch Unbegabten je ein Wort gehört hatte. Das sind ganz harmonische Dur-Akkorde. Allein der umgebende musikalische Kontext, gegeben durch die anderen Akkorde, macht diese "Neapolitaner" unerwartet. Sie können von einem Musikwissenschaftler so umgedeutet werden, als stammten sie aus einer anderen Tonart.

Das EEG-Bild entlarvte, dass auch die Gehirne der "Nichtmusiker" die Unstimmigkeit in den Akkorden sehr wohl registrierte. Davon zeugt eine Zacke, die regelmäßig nach einem Neapolitaner auftauchte. "Bewusst wissen sie davon oft nichts", erklärt Stefan Kölsch 1 , denn bei den meisten Versuchen hatte der Forscher den Testpersonen nicht gesagt, worauf sie eigentlich achten sollten. In einem anderen Experiment mussten sie in einem Buch lesen, so dass sie die Musik nur nebenbei wahrgenommen haben. Die Resultate wiegen umso mehr, als die Neapolitaner so genannte Stellvertreter für bestimmte Akkorde sind, die "Subdominanten". Im westlichen Dur-Moll-System gilt als Regel, dass in einer Akkordfolge die Subdominante stets vor der Dominanten steht - selbst in experimentellen Kompositionen. Auch diese Umkehr in der Reihenfolge erkannten die vermeintlichen musikalischen Laien, ohne es zu ahnen.

Das heißt: Musik ist ein angeborenes biologisches Merkmal mit kulturellen Ausprägungen. Jeder Mensch - von den Inuit in Grönland bis zu den Aborigines in Australien - hat die Fähigkeit zum Erwerb eines komplizierten musikalischen Regelsystems im Gehirn. Das bedeutet auch: Mozart war in gewissem Sinne nicht musikalischer als der Bäcker.

Dass der musikalische Ausdruck von Gefühlen wie Freude, Trauer oder Angst auch über die Grenzen der Kulturen hinweg verstanden wird, belegte 2009 eine Studie vom MPI Forscher Tom Fritz: Der Wissenschaftler reiste nach Afrika zum Stamm der Mafa, um mit Versuchsteilnehmern zu arbeiten, die noch nie mit westlicher Musik in Berührung gekommen sind. Den Mafa wurden westliche Klavierstücke vorgespielt. Anschließend wurden sie gebeten, den Stücken traurige und fröhliche Gesichtsausdrücke zuzuordnen. So konnte Fritz zeigen, dass Dur und Moll universell verstanden werden.

2 Der Leiter der ehemaligen Max-Planck-Forschungsgruppe "Neurokognition der Musik" Stefan Koelsch ist seit 2010 Professor für Biologische Psychologie und Musikpsychologie im Exzellenzcluster "Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin. Hier erforscht der Wissenschaftler die neuronalen Grundlagen von Freude, Trauer oder Furcht durch fMRT und weitere Methoden.

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