Vorfahrt Grammatik - Neurokognition von Sprache

Sprache - das ist ein verwobenes Netzwerk aus Lauten, Struktur und Bedeutung. Seine ganzen Fähigkeiten mobilisiert das Gehirn, um dem Geknatter der Stimmbänder des Gesprächspartners einen Sinn zu geben.

 

In einer guten halben Sekunde testen die grauen Zellen genuschelte Endungen auf grammatische Richtigkeit, prüfen Wörter und Sätze auf Sinn und Logik, schaffen einen grammatischen Bauplan, weisen thematische Rollen zu (wer was wem tut?) und interpretieren letztlich das Gesprochene. All diese Prozesse untersucht die Arbeitsgruppe "Neurokognition von Sprache" um Direktorin Angela D. Friederici beim Sprachverstehen. Die Ergebnisse untermauern, dass das Gehirn unglaublich schnell zunächst die Grammatik des Gehörten verarbeitet, ehe es die Bedeutung von Wörtern und Sätzen analysiert - und zwar hochautomatisiert, fern jeder bewussten Kontrolle.

Dass einzelne Hirnregionen und Sprache eng zusammenhängen, belegten schon die bahnbrechenden Studienergebnisse Paul Brocas. 1861 sezierte der französische Arzt das Gehirn eines verstorbenen Patienten, der den Spitznamen "Tan" erhalten hatte. - "Tan" war die einzige Silbe, die er sprechen konnte. Durch eine unterschiedliche Intonation der Silbe signalisierte Tan, ob er eine Frage bejahte oder verneinte. Broca entdeckte eine große Zyste im linken Frontallappen der Großhirnrinde, also im vorderen Teil der linken Hirnhälfte, am unteren Teil der dritten Stirnwindung. Als die nächsten acht von ihm untersuchten sprachbehinderten Patienten ebenfalls genau dort Schäden aufwiesen, schloss Broca, "die Fähigkeit zu artikulierter Sprache" sei in der linken Hirnhälfte lokalisiert. Kurze Zeit später berichtete der deutsche Mediziner Carl Wernicke über etliche Patienten mit massiven Defiziten im Sprachverstehen, obwohl sie relativ gut sprechen konnten. Die Gehirne dieser Menschen zeigten ebenfalls Schäden in der linken Hemisphäre, allerdings im seitlich liegenden Schläfenlappen. Fortan galt dieses "Wernicke-Areal" als Zentrum des Sprachverständnisses.

Die Ergebnisse des Friederici-Teams verfeinern die neuronale Landkarte der Sprachverarbeitung im Gehirn. Bei seinen Experimenten werden ganz bestimmte Parameter der Sprache systematisch verändert. Beispiele: "Die hungrige Katze jagt die flinke Maus" ist ein korrekter Satz. "Das mumpfige Föläfel fänget das apoldige Trekon" ist ein grammatisch richtiger Satz, aber mit sinnleeren Wörtern. "Der Koch stumm Kater Geschwindigkeit doch Ehre" enthält zwar sinnvolle Wörter, hat aber keine grammatische Struktur. "Der Norp Bruch Orlout Kinker Deftei Glauch Leigerei" schließlich ist völlig unverständlich. Die Frage lautet: Wie reagieren erwachsene Versuchspersonen auf solche Sätze? Im Moment des Verstehens analysierten die Forscher die Gehirne der Testpersonen beispielsweise mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT).

Bei allen vier Satztypen läuft der hintere und mittlere Teil des linken Schläfenlappens auf Hochtouren. Der vordere Teil ist vor allem bei der Verarbeitung der Grammatik aktiv. Diese Hirnregion kommt offenbar dann ins Spiel, wenn von normalen Sätzen abweichende Sprache analysiert werden muss. Zudem ist bei sinnleeren Sätzen mit ausschließlich grammatischer Verarbeitung das "frontale Operkulum" nahe des Broca-Areals aktiv - eine Art Syntax-Zentrum für ungewöhnliche Fälle. Seitliche und vordere Anteile der linken Hemisphäre bilden also offenbar das neuronale Netzwerk für die Verarbeitung gesprochener Sprache.

Entgegen den Erkenntnissen aus Studien mit sprachgestörten Patienten zeigen die Untersuchungen, dass auch die entsprechenden Areale der rechten Hirnhälfte stets mit aktiviert werden - wenn auch schwächer. Das Gehirn bringt seine rechte Hemisphäre offenbar ins Spiel, um einerseits die Prosodie ("Sprachmelodie") zu verarbeiten. Andererseits deuten überraschende Aktivierungen im rechten Stirnhirn auf Aufmerksamkeitsprozesse bei der Sprachverarbeitung hin. Denn je mehr bei den verschiedenen Experimenten die Aufmerksamkeit der Testpersonen beansprucht wird, desto stärker die Aktivität. Detaillierte Untersuchungen sollen nun diese Hypothese prüfen.

Die zeitliche Verarbeitung beim Sprachverstehen analysiert das Leipziger Team mit dem EEG - auf der Basis so genannter serieller Modelle. Demnach erstellt das Gehirn in einem ersten Schritt zuerst eine syntaktische Struktur der einlaufenden Information: (Der große Mann) (begrüßt) (die kleine, blonde Frau). Denn das menschliche Kurzzeitgedächtnis vermag immer nur sieben Einheiten zu verarbeiten, bevor der Speicher voll ist. Sieben Einheiten - das können sieben Wörter, sieben Phrasen oder sieben Sätze sein. Würde das Gehirn nur einzelne Wörter verarbeiten, wäre der Kurzzeitspeicher rasch gefüllt, ohne dass das Gehirn viele Informationen gewonnen hätte. Unbewusst teilen wir deshalb den eintreffenden Sprachfluss in grammatische Häppchen.

Um diese These zu testen, wurden Testpersonen zunächst Sätze vorgespielt, die entweder richtig ("Der König wurde ermordet"), semantisch falsch ("Der Honig wurde ermordet") oder grammatisch falsch waren ("Der König wurde im ermordet"). Das Gehirn sollte bei jedem Fehler sozusagen "aufschreien". Gemessen wurde das ereigniskorrelierte Hirnpotenzial, und zwar immer dann, wenn das Wort "ermordet" auftauchte. Die Wissenschaftler beobachteten, dass das Vorderhirn im Falle syntaktisch falscher Sätze nach etwa 200 Millisekunden mit einem typischen Aktivitätsmuster reagiert, abgekürzt ELAN (für early left anterior negativity). Mit einem Kontrollexperiment wurde zudem nachgewiesen, dass die ELAN für Sprachverarbeitung spezifisch ist und nichts mit der so genannten "mismatch negativity" zu tun hat, die im EEG-Bild auf alle möglichen überraschenden Ereignisse deutet.

Nach Studien mit der MEG konzentriert sich die ELAN auf seitliche Bereiche der linken Großhirnrinde - wahrscheinlich auf das "Planum polare" im Schläfenlappen sowie auf eine Region nahe dem Broca-Areal. Bei semantisch inkorrekten Beispielen "protestiert" das Gehirn erst nach etwa 400 Millisekunden (N400), diesmal aber in hinteren Hirnregionen. Das interne Lexikon ist also längst nicht so schnell. Interessanterweise reagiert das Gehirn bei syntaktischen und semantischen Anomalien nochmals nach 600 Millisekunden (P600), und zwar wiederum in hinteren Hirnabschnitten. Hier treten offenbar die semantischen und syntaktischen Systeme in Kontakt, um gemeinsam das Gehörte zu analysieren und Fehler zu korrigieren.

Die grammatischen Informationen bilden ein fest geschlossenes, sich abertausendmal wiederholendes System. Deshalb ist gerade die ELAN-Aktivierung hochautomatisiert und keiner bewussten Kontrolle zugänglich. Das Team um Friederici hat das in einem Test überprüft: Ist ein Prozess wirklich automatisch, dann sollte er unter allen möglichen Umständen ausgelöst werden - unabhängig davon, ob ein syntaktischer Fehler in einem Experiment häufig oder selten vorkommt. Nach dem Motto: "Wenn dauernd falsche Sätze kommen, muss ich gar nicht mehr darauf reagieren." Doch offenbar spielt das bei der ELAN-Aktivierung keine Rolle, egal ob in einem Versuch nun 20 Prozent der Sätze falsch waren oder 80 Prozent. Selbst wenn man die Testpersonen instruiert, sie sollen die grammatischen Fehler in den nächsten Sätzen vergessen, spult das Gehirn unbeirrt sein Programm ab.

Anders bei der semantischen Verarbeitung: Eine Schar Testpersonen sollte zum Beispiel angeben, ob es sich bei einfachen Wörtern um abstrakte Begriffe (wie "Liebe") oder konkrete Nomen (wie "Haus") handelt oder um Funktionswörter (wie "über") oder Inhaltsworte (wie "Auto"). Schon als Folge der unterschiedlichen Aufgabenstellung reagiert das Gehirn verschieden. Im menschlichen Gehirn sei vermutlich eine angeborene Universalgrammatik festgeschrieben, sagt Angela D. Friederici in Anlehnung an Noam Chomsky. Genauer: die Fähigkeit, ein solches Regelsystem zu lernen. Die These - bislang unbewiesen, aber durch etliche Indizien gestützt - entzweit die Experten bis heute. Chomskys Kritiker vergleichen das Gehirn vielmehr mit einem höchst lernfähigen Computer. Wenn die Umwelt Babys mit sprachlichen Informationen füttert, erkenne das Gehirn rasch Regelmäßigkeiten im Datenstrom - angeblich ohne angeborene Vorgaben. Um auch diese Frage zu beleuchten, haben die Leipziger Forscher ihre Studien auf Kinder ausgeweitet. Denn bei Kindern könne man beobachten, wie sich die richtige grammatische Struktur nach und nach entwickelt. Solche Experimente erfordern viel Geduld und Phantasie. Doch erste Ergebnisse mit Fünf- bis Achtjährigen brachten erstaunliche Ergebnisse. Bei Fünfjährigen konnten die Forscher nur eine schwache N400- und gar keine ELAN-Aktivierung sehen, als die Kleinen einen grammatischen Fehler erkennen sollten. Allerdings vermochten die Gehirne der Fünfjährigen bereits die korrekte grammatische Struktur eines Satzes zu bestimmen. Bei etwas älteren Kindern registrierten die Wissenschaftler zwar eine ELAN im Vorderhirn, doch war sie verzögert. Siebenjährige reagierten mit diesem Aktivierungsmuster bei rund 400 Millisekunden, Achtjährige schon etwas schneller bei 250 Millisekunden.

Aber kurz vor dem neunten Lebensjahr trat die ELAN plötzlich in voller Stärke auf. Offenbar vollendet das junge Gehirn irgendwann im achten Lebensjahr seine grammatische Entwicklung, indem es die schnellen Prozesse automatisiert. Das deckt sich mit Hinweisen, wonach hirnverletzte Kinder erst ab dem neunten Lebensjahr eine Wernicke-Aphasie entwickeln, sondern nur allenfalls eine Broca-Aphasie mit dem typisch stockenden Telegrammstil. Möglicher Grund: Wo noch nichts automatisiert ist, kann auch nichts durch eine Hirnschädigung zerstört werden. Auch eine Studie von Angela D. Friederici aus den 1980er Jahren deutet darauf hin, dass die Sprachentwicklung genau in diesem Alter einen entscheidenden Sprung macht.

Vorher ist das System bereits installiert, muss aber noch schneller und automatisiert werden. Bei noch jüngeren Kindern dürfte die grammatische Verarbeitung noch weiter verzögert sein. Offenbar lernen wir Sprechen wie Schwimmen oder Fahrrad fahren: Es wird schrittweise optimiert, und wenn es einmal "sitzt", denken wir nicht mehr darüber nach. Das Erlernte läuft dann unbewusst ab. Damit der Prozess reibungslos startet, verändern Erwachsene intuitiv ihr Sprachverhalten, wenn sie auf Säuglinge einreden - mit weniger und kürzeren Äußerungen, viel deutlicherer Aussprache und fast musischer Melodie. Wie gut und wie schnell die kleinen "Sprachlernmaschinen" das Angebot annehmen, untersucht Angela D. Friederici jetzt zusammen mit Kollegen der Universitäten in Berlin, Potsdam und Magdeburg sowie der Berliner Klinik Lindenhof. Die Forscher verfolgen wahrscheinlich sechs Jahre lang die sprachliche Entwicklung im Gehirn bei 250 Mädchen und Jungen von Geburt an - ein weltweit einmaliges Projekt. Beteiligt sind zur Hälfte Kinder, die aus Familien mit Sprachstörungen stammen. Im Vergleich zu sprachlich unauffälligen Familien sollen die einzelnen Prozesse der Sprachverarbeitung detailliert aufgeklärt werden, um künftig Störungen bei der Sprachentwicklung früher entdecken und therapieren zu können. Die Vision ist, dass für eine Früherkennung ein herkömmliches EEG-Bild beim Kinderarzt genügen könnte.

Das Vorhaben ist wichtig. Besorgt beobachten Experten seit einigen Jahren eine deutliche Zunahme der Sprachstörungen. Nach jüngsten Untersuchungen in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben rund 20 Prozent der Kindergartenkinder deutliche Mängel bei Sprachverständnis, Wortschatz, Artikulation und Grammatik. 1982 ergaben vergleichbare Studien gerade einmal vier Prozent.

Zur Redakteursansicht