Stress: Alles zu viel!

12. November 2019

Stress scheint heute für viele Menschen zum Alltag geworden zu sein. Trotzdem ist vieles über diesen „neuen Normalzustand“ noch unbekannt. Woher kommt etwa diese permanente Überlastung und warum verkraften sie manche besser als andere? Wie wirkt sie im Gehirn? Und welche Strategien gibt es, um dauerhaft damit umzugehen? Mehrere Forscherteams am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften gehen der Sache auf den Grund.

Termindruck bei der Arbeit, dauernde Erreichbarkeit, tägliches Pendeln, für die Kinder da sein – immer mehr in immer kürzerer Zeit. Wir fühlen uns permanent gestresst. Stress ist zur „Volkskrankheit“ geworden und laut der Weltgesundheitsorganisation zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts. Und das, obwohl wir in der modernen Welt den ursprünglichen Stressfaktoren, tatsächlich lebensbedrohlichen Situationen, kaum noch ausgesetzt sind. Stattdessen leben wir in einem friedlichen Land. Die meisten hier haben ausreichend Nahrung, ein Dach über dem Kopf und dazu jede Menge Annehmlichkeiten. Dennoch beschreibt sich beinahe jeder als permanent am Limit.

Einer der Gründe: Wir erleben heute viel mehr psychosozialen Stress, das heißt, Situationen, die wir als unvorhersehbar und -kontrollierbar empfinden und die unser Ego gefährden. „Unser Körper reagiert in einer Prüfungssituation prinzipiell genauso wie unter Lebensgefahr“, erklärt Veronika Engert, Leiterin der kürzlich am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) gestarteten Forschungsgruppe „Psychosozialer Stress und Familiengesundheit“. Die Nebennieren schütten verstärkt Adrenalin und das Stresshormon Kortisol aus, der Körper verbraucht folglich die gespeicherten Energiereserven, das Herz-Kreislaufsystem wird hochgefahren, die Muskeln spannen sich an, das Immunsystem verändert sich. Zwar seien die Reaktionen unter mentaler Anspannung nicht ganz so stark, aber dennoch stark genug, um sich dauerhaft auf die Gesundheit auszuwirken. „Viele führen inzwischen ein Leben, bei dem die Stresssysteme ständig aktiv sind, weil es kaum mehr Raum für Ruhe und vollständiges Runterfahren gibt“, sagt Engert. „Wir sind ständig zu viel Druck, paralleler Beschäftigung, Lärm, Angebot und sozialem Vergleich ausgesetzt.“

Selbst Personen, die sich objektiv gesehen weniger gestresst fühlen müssten, weil sie etwa keine Kinder haben, nur halbtags arbeiteten, keine Geldsorgen haben, fühlten sich unter Druck. „Stress ist eine sehr subjektive Empfindung“, so die Professorin für Soziale Neurowissenschaften. Menschen seien sehr unterschiedlich belastbar. Zudem spielten bei vielen auch Ängste eine große Rolle. Unsichere, stark ängstliche Menschen empfinden Situationen als Bedrohung, die für andere stimulierend sind. „Ständige Bedrohung raubt auf lange Sicht Energie.“

Zwar ist heute auch das Bewusstsein für Stress stärker als früher und damit die Hemmschwelle niedriger, sich selbst als gestresst zu bezeichnen, sagt Engert. Dennoch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass tatsächlich eine Mehrbelastung besteht. Immer mehr Menschen leiden an Stress-assoziierten Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen und Depressionen. Beruflicher Stress bedeutet laut der Weltgesundheitsorganisation ein 50 Prozent höheres Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken, die wiederum häufig zum Herzinfarkt führt.

Besonders stressig: Situationen, die die soziale Stellung bedrohen

Dabei ist klar: An sich ist Stress nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Er aktiviert uns, sodass wir Herausforderungen meistern können. Nicht umsonst erreicht das Stresshormon Kortisol etwa eine halbe Stunde nach dem Aufwachen seine höchste Konzentration im zirkadianen Rhythmus. „Das brauchen wir, um uns für den Tag bereit zu machen“, erklärt Engert. An Wochen- und Prüfungstagen sei diese Kortisol-Aufwachreaktion höher als am Wochenende. Entscheidend, so die Psychologin, seien die Dosis und der Umgang mit Stress. „Eine ständig erhöhte Kortisolausschüttung macht uns krank.“ Das spiegelt sich sogar im Gehirn wider. Eine ihrer früheren Studien hatte etwa gezeigt, dass bereits chronischer Stress in der Kindheit zu einem kleineren Hippocampus, dem Gedächtniszentrum, im Alter führt.

Was Menschen besonders unter Druck setzt? „Situationen, die die soziale Stellung des eigenen Ichs bedrohen, also etwa ihre Kompetenz infrage stellten, und die sie noch dazu als unkontrollierbar und unvorhersehbar empfinden“, so die Psychologin. Also Situationen, die in unserem Alltag tatsächlich mehr geworden sind“, sagt Engert. Heute müsse man sich von klein an permanent beweisen, auch vor einer größeren virtuellen Menge in den Sozialen Netzwerken.

Engert und ihr Team wollen in den kommenden Jahren nicht nur herausfinden, wie der unmittelbar selbst erlebte psychosoziale Stress das Verhalten und die Gesundheit beeinflusst. Die Forscher interessiert auch, wie ansteckend Stress wirken kann. Wie sehr beeinträchtigen einen die Belastungen des eigenen Partners, der Eltern, des Arbeitskollegen? Ein aktueller Versuch soll etwa zeigen, wie stark es ein Kind belastet, die eigene Mutter in einer schwierigen Stress-Situation zu beobachten. Ihre früheren Untersuchungen hatten gezeigt, dass sich zehn Prozent der Menschen selbst dann von Stress anstecken lassen, wenn sie eine Person unter Druck beobachten, die ihnen vollkommen unbekannt ist. Handelt es sich um den eigenen Partner, sind es 40 Prozent.

Und nicht nur das: Die Forscher suchen auch nach Wegen, die das Stresslevel und die gesundheitlichen Risiken langfristig reduzieren. Im Visier haben sie dabei vor allem mentale Trainingsmethoden. Denn bisherige Studien haben bereits gezeigt, dass ein intensives mehrmonatiges Training von Perspektivübernahme, Mitgefühl und anderen sozialen Fähigkeiten, die nach akutem Stress ausgeschüttete Kortisolmenge halbieren. Unklar ist jedoch bislang etwa, ob sich verschiedene Meditationstechniken auch auf andere Gesundheitsfaktoren wie das Immunsystem oder auch unsere Denkmuster auswirken. Führt Stress also dazu, dass unsere Gedanken positiver oder negativer, selbst- oder fremdbezogener, zukunfts- oder vergangenheitsorientierter sind? „Genau das wollen wir herausfinden“, sagt Engert zuversichtlich.

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