Wird das Gehirn von Kindern wirklich dünner?

24. September 2019
Die Hirnrinde von kleinen Kindern wird beim Älterwerden immer dünner. Zumindest glaubten Wissenschaftler das – seit Jahrzehnten geht es in der Debatte darum, wie und warum dies geschieht. Nun legt ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen in einer gemeinsamen Studie in Proceedings of National Academy of Sciences nahe, dass das Dünnerwerden teilweise ein Messfehler sein könnte.

Vaidehi Natu von der Stanford University in Kalifornien liefert zusammen mit ihren Kolleginnen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig beeindruckende Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass die Hirnrinde in der Entwicklung von Kindern wahrscheinlich nicht so dünn wird, wie bisher angenommen. Vielmehr scheint es einen Anstieg des Myelins zu geben, also der Fettscheiden, die die Nervenfasern isolieren.

Studien haben immer wieder gezeigt, dass bestimmte Bereiche der Großhirnrinde, also der  äußersten Schicht des Gehirns, im Laufe der Entwicklung von Kindern dünner werden. Und bei einer Dicke von nur drei Millimetern können Kinder im Durchschnitt scheinbar fast einen Millimeter an grauer Substanz verlieren, bis sie das Erwachsenenalter erreichen. Es wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt, um diese enormen Verluste zu erklären. So wird beispielsweise vermutet, dass Zellen der Grauen Substanz und ihre Verbindungen auf natürliche Weise abgebaut werden, um das Gehirn effizienter zu machen. Vielleicht könnte also ein umfangreicher Umbau einen dünneren Kortex bei Erwachsenen erklären. Alternativ wissen wir, dass sich unser Gehirn während der Entwicklung ausdehnt. Vielleicht wird der Kortex gedehnt und dabei dünner? Die neue Forschung schließt diese Prozesse keineswegs aus und findet tatsächlich Beweise für Letzteres. Die Wissenschaftlerinnen um Vaidehi Natu und ihre MPI-Kollegin Evgeniya Kirilina haben nun jedoch herausgefunden, dass eine markante Veränderung aufgrund der Einschränkungen heutiger Messgeräte unterschätzt wurde.

Genauer gesagt: Misst man mit quantitativer Magnetresonanztomographie (oder qMRT), so scheint es, dass junge Gehirne tatsächlich mit der Zeit mehr myelinisiert werden. Das ist wichtig für die Gehirnentwicklung, aber es könnte aktuelle Schätzungen der kortikalen Dicke oder der Grauen Substanz im Hirn durcheinander bringen. Myelin ist das "Weiße" in der Weißen Substanz und eine Fettscheide, die viele Nervenfasern isoliert und so eine schnellere Erregungsleitung ermöglicht. Das Problem ist, dass die Messung der Dicke der Grauen Substanz entscheidend von der Detektion der Grenze zwischen Weißer und Grauer Substanz abhängt. Wie Natu und Kirilina herausgefunden haben, kann diese Grenze verschleiert und die kortikale Dicke unterschätzt werden, wenn die Myelinisierung während der Entwicklung zunimmt. Diese Ergebnisse erhielten die Forscherinnen, indem sie Erwachsene und Kinder mit modernsten quantitativen MRT-Techniken untersuchten.

Evgeniya Kirilina, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Neurophysik am MPI CBS in Leipzig arbeitet, ist aber vorsichtig: „Die Tatsache, dass der Kortex während der Entwicklung dünner wird, ist auch bei histologischen Methoden gut bekannt. Wir behaupten nicht, dass es nicht dazu kommt. Aber die aktuellen Schätzungen können in einigen Fällen aufgrund gleichzeitiger Myelinisierung falsch sein.“

Das Team untersuchte drei spezialisierte Teile des Gehirns im höheren visuellen Kortex. Trotz ihrer unmittelbaren räumlichen Nähe zeigten alle ein einzigartiges Entwicklungsmuster, was die Notwendigkeit einer vorsichtigen Interpretation unterstreicht. In den Gehirnteilen, die für die Gesichts- und visuelle Worterkennung verantwortlich sind, zeigte sich der oben beschriebene Myelinisierungseffekt. Wiederum zeigte der Teil, welcher die Ortserkennung zur Aufgabe hat, keinen Hinweis auf eine Myelinisierung. Stattdessen schien er sich mit der Zeit morphologisch zu verändern und über die Zeit zu dehnen. Um den wichtigen Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion hervorzuheben, wurden die Unterschiede in der Myelinisierung dieser funktionell spezialisierten Regionen bei Hirnen verstorbener Erwachsener bestätigt, wobei sowohl die Ultrahochfeld-MRT als auch die Histologie zum Einsatz kamen.

Die Auswirkungen dieser neuen Erkenntnisse sind recht weitreichend. Jahrzehntelange Arbeit muss nun auf ihre Genauigkeit hin überprüft werden. Zum Beispiel deuten viele  wissenschaftliche Arbeiten darauf hin, dass sich die Dicke des Kortex ändert, wenn man neue Fähigkeiten erlernt. Es muss nun geklärt werden, ob auch die Myelinisierung eine Rolle spielt. Darüber hinaus kann der Abbau von Myelin zu schweren Krankheiten führen. Das ist genau das, was bei Multipler Sklerose passiert. Genauere neue Messtechniken wie die qMRT versprechen, die Erkennung, Überwachung und Behandlung solcher Erkrankungen zu verbessern.

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