Wissenschaftliches „Gedankenlesen“ mithilfe von Gehirnbildern?

Forschungsbericht (importiert) 2007 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Autoren
Haynes, John-Dylan
Abteilungen
Aufmerksamkeit und Bewusstsein (Prof. Dr. John-Dylan Haynes)
MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Zusammenfassung
Kann man allein auf der Basis der Gehirnaktivität einer Person bestimmen, was sie gerade denkt, fühlt, oder gar was sie gleich tun wird? Neue Forschung hat gezeigt, dass man die Gedanken einer Person mittels funktioneller Kernspintomographie sehr gut dekodieren und vorhersagen kann. Solches „Gedankenlesen“ auf der Basis von Hirnaktivität kann Aufschluss darüber geben, wie das Gehirn Information neuronal kodiert. Zugleich hat diese Forschung auch vielfältige klinische Anwendungsmöglichkeiten, wie etwa bei der Steuerung von Computern und künstlichen Prothesen mittels der Hirnaktivität von Patienten oder bei der Diagnostik kognitiver Aktivität bei völlig paralysierten Patienten.

Die Möglichkeit, die Gedanken einer anderen Person zu lesen, hat Menschen seit jeher fasziniert. In Wissenschaftskreisen wird Gedankenlesen jedoch oft als eine Domäne von Scharlatanen und Jahrmarktillusionisten angesehen. Man vergisst dabei leicht, dass wir in unserem Alltag bis zu einem gewissen Grad alle Gedankenlesen betreiben – und dies sogar für ganz selbstverständlich halten. Aus dem „Rotwerden“ einer Person schließen wir darauf, dass sie verlegen ist, oder aus ihrer zittrigen Stimme schließen wir auf ihre Nervosität. Allerdings gibt es nur sehr wenige solche äußerlichen Kriterien dafür, was eine Person gerade denkt. Da liegt die Idee nahe, die Gedanken einer Person direkt aus dem Sitz der Gedanken, dem Gehirn, auszulesen.

In der Tat sind in letzter Zeit Techniken entwickelt worden, die erlauben, die Gedanken einer Person bis zu einem gewissen Grad aus ihrer Hirnaktivität zu erschließen. Dabei macht man sich zunutze, dass jeder Gedanke mit einem charakteristischen Aktivierungsmuster im Gehirn einhergeht. In Analogie zu Fingerabdrücken kann man sich solch ein Muster als einen einzigartigen, unverwechselbaren „Abdruck“ des Gedankens im Gehirn vorstellen. Wenn man ein solches Gehirnmuster vorfindet, weiß man, was eine Person gerade denkt.

Mittels moderner Hirnforschungstechniken kann man die Hirnaktivitätsmuster einer Person mit einer sehr hohen räumlichen Genauigkeit messen. Es ist mit diesen Verfahren gelungen, eine ganze Vielfalt von Gedanken auszulesen. Aus den Spannungsverteilungen an der Kopfhaut (oftmals als „Hirnwellen“ bezeichnet) lassen sich zum Beispiel einfache Absichten auslesen, wie etwa einen Cursor nach links oder rechts zu steuern. Aus dem Hirnstoffwechsel, der mittels der funktionellen Kernspintomographie mit hoher räumlicher Präzision gemessen werden kann, lassen sich sogar noch viel detailliertere Gedankeninhalte auslesen. So kann man ablesen, welche Bilder jemand gerade betrachtet, selbst wenn die Bilder so kurz präsentiert werden, dass sie nicht ins Bewusstsein dringen.

Dass man mit modernen Verfahren selbst alltagsrelevante Gedankeninhalte auslesen kann, zeigte jüngst ein Forschungsprojekt der Arbeitsgruppe „Aufmerksamkeit und Bewusstsein“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Alltäglich nehmen wir uns Dinge vor, zum Beispiel dem Freund ein Buch zurückzugeben oder einen Termin nicht zu vergessen. In diesem Projekt wurde gezeigt, dass man aus der Hirnaktivität auslesen kann, wie und wo im Gehirn solche Entscheidungen gespeichert werden. Im Rahmen eines klar definierten Versuchsaufbaus sollten Probanden frei zwischen zwei möglichen Entscheidungen wählen. Die Versuchspersonen sollten sich vornehmen, bei der nächsten Rechenaufgabe zwei Zahlen entweder zu addieren oder zu subtrahieren. Diese Absicht konnte mit 70-prozentiger Genauigkeit allein anhand der Gehirnaktivität der Probanden entschlüsselt werden – noch bevor diese die Zahlen zu sehen bekamen und zu rechnen begannen. Die Probanden trafen ihre Wahl verdeckt und wussten zunächst nicht, welche zwei Zahlen sie addieren oder subtrahieren sollten. Dadurch war sichergestellt, dass ausschließlich die Intention der Probanden aus der Gehirnaktivität abgelesen wurde. Andere Hirnaktivitäten, wie zum Beispiel die eigentliche Durchführung der Rechenaufgabe oder die Vorbereitung der Handbewegung zum Anzeigen der Lösung, fanden in dem Zeitraum der Messungen, aus denen die Wissenschaftler ihre Vorhersagen trafen, nicht statt. Erst einige Sekunden später erschienen die Zahlen auf dem Bildschirm und die Probanden konnten die gewählte Rechenaufgabe ausführen. Bis zu diesem Zeitpunkt war es noch nie gelungen, aus der Aktivität des präfrontalen Kortex, einem Teil des Frontallappens der Großhirnrinde, abzulesen, welche von zwei möglichen Entscheidungen ein Proband getroffen hatte.

Der Trick, mit dem die Forscher bisher Unsichtbares sichtbar machen konnten, liegt in der Anwendung einer neuen Methode namens „Multivariate Mustererkennung“. Dabei trainiert man einen Computer, charakteristische Aktivierungsmuster im Gehirn zu erkennen, die bei den verschiedenen Absichten auftreten. Dabei kommt eine ganz ähnliche Software zum Einsatz, wie sie von der Polizei zur Erkennung von Fingerabdrücken verwendet wird. Anders als bei herkömmlichen Methoden werden hier also die Messungen aus vielen Gehirnbereichen kombiniert, um die Absicht der Probanden zu entschlüsseln. Dass das so gut funktioniert, hängt mit der Funktionsweise des Gehirns zusammen. Die Experimente zeigen, dass Absichten nicht in einzelnen Nervenzellen gespeichert werden, sondern in einem räumlich verteilten Muster neuronaler Aktivität. Dabei zeigen sich sogar regionale Unterschiede innerhalb des präfrontalen Kortex. Weiter vorne gelegene Bereiche kodieren die Absicht bis zur Ausführung der Aufgabe, weiter hinten gelegene Bereiche werden aktiv, sobald die Probanden beginnen zu rechnen (Abb. 1). Handlungen, die in einem Bereich des Gehirns als Absicht gespeichert werden, müssen also in einen anderen Bereich des Gehirns kopiert werden, um ausgeführt zu werden. In neueren Forschungen beschäftigten die Forscher sich mit der Frage, wie die frei gewählten Absichten einer Person im Gehirn entstehen. Es zeigte sich, dass man bis zu zehn Sekunden bevor eine Person eine Entscheidung fällt, aus ihrer Gehirnaktivität vorhersagen kann, wie sie sich entscheiden wird. Wenn Entscheidungen so sehr von unbewusster Hirnaktivität beeinflusst werden, stellt sich natürlich die Frage, ob ein „freier Wille“ noch naturwissenschaftlich haltbar ist. In neueren Forschungen beschäftigten die Forscher sich mit der Frage, wie die frei gewählten Absichten einer Person im Gehirn entstehen. Es zeigte sich, dass man bis zu zehn Sekunden bevor eine Person eine Entscheidung fällt, aus ihrer Gehirnaktivität vorhersagen kann, wie sie sich entscheiden wird. Wenn Entscheidungen so sehr von unbewusster Hirnaktivität beeinflusst werden, stellt sich natürlich die Frage, ob ein „freier Wille“ noch naturwissenschaftlich haltbar ist.

Dies zeigt, dass wir bereits heute in der Lage sind, sehr komplexe Gedanken einer Person an ihrer Hirnaktivität abzulesen. Bedeutet dies jedoch, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis wir in ein paar Jahren eine „universelle Gedankenlesemaschine“ bauen können? Eine Maschine also, an die wir eine Person nur anschließen müssen um zu erfahren, woran sie gerade denkt, ob sie lügt, oder welches Auto sie kaufen wird? Solch eine Maschine ist zurzeit noch Zukunftsmusik und wird es auch noch auf absehbare Zeit bleiben. Ein großes Problem ist, dass die Messempfindlichkeit der heutigen Hirnscanner noch nicht ausreicht, die Hirnaktivität genau genug zu registrieren, um beliebig feine Abstufungen zwischen Gedanken zu registrieren. Aber es sind nicht nur technische Probleme zu lösen. Die Forscher müssen auch mehr darüber in Erfahrung bringen, wie Gedanken im Gehirn gespeichert sind. Zum Beispiel kann man bei der derzeitigen Technik nur zwischen wenigen alternativen Gedanken unterscheiden. Um jedoch möglichst viele Gedanken erkennen zu können, müsste man für jeden Gedankeninhalt wissen, mit welchem Muster im Gehirn er einhergeht. Man bräuchte eine Art Wörterbuch, das Gedanken in Hirnaktivitätsmuster übersetzt. Zudem sind in den meisten Fällen die Gehirnmuster einzelner Gedanken von Person zu Person verschieden. Man müsste also für jede Person ein eigenes Wörterbuch erstellen. Welche Ähnlichkeiten zwischen den Wörterbüchern verschiedener Personen bestehen, wird zurzeit sehr intensiv erforscht.

Obwohl noch sehr viele Fragen offen sind, könnte man mit relativ einfachen Fragestellungen in den nächsten Jahren schon in einigen ausgewählten Bereichen realistischen Anwendungen sehr nahe kommen. Viele praktische Anwendungen sind für die gegenwärtig verfügbare Technik gut geeignet, da sie als „einfache“ Fragestellungen formuliert werden können, bei denen man zwischen wenigen Alternativen auswählen muss. Zum Beispiel wäre man schon sehr weit, wenn man wüsste, ob eine Person bei einer bestimmten Frage lügt oder nicht, oder ob sie das eine oder das andere Produkt kaufen würde oder nicht. Diese einfachen Beispiele weisen auf eine drängende Frage hin: Sollte man überhaupt eine Technik entwickeln, die die Gedanken einer Person auslesen kann? Wie in vielen Bereichen biomedizinischer Forschung steht man vor einem Dilemma. Auf der einen Seite lassen die Ergebnisse auf eine Verbesserung klinischer und technischer Anwendungen hoffen. So gibt es heute schon erste Ansätze, mit computergestützten Prothesen oder Brain-Computer-Interfaces schwerstgelähmten Patienten das Leben zu erleichtern. Auf der anderen Seite stehen Anwendungen, die von vielen Menschen kritisch gesehen werden. Dazu zählen vor allem kommerzielle Anwendungen wie das Auslesen einer Produktpräferenz zu Marketingzwecken oder das Messen einer gefühlsmäßigen Einstellung zu einem Unternehmen bei einem Jobkandidaten. Aus diesen Gründen fordert Professor John-Dylan Haynes vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften seit einiger Zeit eine breitere gesellschaftliche Debatte darüber, welche dieser Techniken von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt werden.

Originalveröffentlichungen

1.
C. S. Soon, M. Brass, H. J. Heinze, J. D. Haynes:
Unconscious determinants of free decisions in the human brain.
Nature Neuroscience 2008.
2.
J.-D. Haynes, K. Sakai, G. Rees, S. Gilbert, C. Frith, R. E. Passingham:
Reading hidden intentions in the human brain.
Current Biology 17, 323–328 (2007).
3.
J.-D. Haynes, G. Rees:
Decoding mental states from brain activity in humans.
Nature Reviews Neuroscience 7, 7, 523–534 (2006).
4.
J.-D. Haynes, R. Deichmann, G. E. Rees:
Eye-specific suppression in human LGN reflects perceptual dominance during binocular rivalry.
Nature, 438, 496–499 (2005).
5.
J.-D. Haynes, G. Rees:
Predicting the orientation of invisible stimuli from activity in human primary visual cortex.
Nature Neuroscience, 8, 686–691 (2005).
6.
J.-D. Haynes, G. Rees:
Predicting the stream of consciousness from activity in early visual cortex.
Current Biology 15, 1301–1307 (2005).
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