Lise-Meitner-Forschungsgruppe Neurobiosozial
Die Interaktion zwischen dem menschlichen Gehirn und seinem sozialen Umfeld ist von grundlegender Bedeutung für die Formung der Kognition durch soziales Lernen und Erziehung. Soziale Unterstützung puffert nicht nur die Auswirkungen negativer Erfahrungen auf die psychische Gesundheit ab, sondern kann durch verschiedene Schutzmechanismen auch die „Gehirngesundheit“ fördern. Dennoch sind weltweit mehr als 800 Millionen Menschen von Einsamkeit betroffen, die mit zahlreichen Gesundheitsproblemen in Verbindung gebracht wird, darunter ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen und kognitiven Abbau[1][2]. Negative Erfahrungen und chronischer Stress können auch die Gehirnarchitektur verändern, was die Notwendigkeit einer stabilen und unterstützenden Umgebung zur Förderung einer gesunden Neuroentwicklung und eines gesunden Alterns unterstreicht[3][4].
Die Lise-Meitner-Gruppe „Neurobiosozial“ ist ein interdisziplinäres und internationales Team von Neurowissenschaftlern, Biologen, Psychologen, Medizinern und Informatikern, das sich der Frage widmet, wie biologische und soziale Faktoren die menschliche Gehirnfunktion, Kognition und Gesundheit beeinflussen. Mithilfe fortschrittlicher bildgebender Verfahren für das Gehirn und Computermodellen untersuchen wir die Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt, um zu erforschen, wie das Gehirn während der Entwicklung Stabilität und Plastizität ausbalanciert. Angesichts der langen Zeitspanne der menschlichen Neuroentwicklung und unserer Abhängigkeit von sozialen Beziehungen für Erziehung und Lernen erkennen wir die entscheidende Rolle, die soziale Faktoren bei der Gestaltung der Gehirnstruktur und der kognitiven Funktion spielen.
Um diese Fragen zu klären, stützen wir uns auf ein breites Spektrum von Daten, darunter MRT-basierte Neuroanatomie, histologische Daten, Genomik, Geodaten, aufgabenbasierte Bewertungen und Selbstberichte. Dieser breite Ansatz verdeutlicht das komplexe Zusammenspiel zwischen Neurobiologie und sozialem Kontext.
Unser Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Sofie Valk ist am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und am Forschungszentrum Jülich in Deutschland angesiedelt. Unsere Arbeit umfasst drei Kernbereiche: theoretische Neurowissenschaften, Neurobiologie und Soziale Neurowissenschaften. Diese Bereiche sind eng miteinander verbunden und bilden die Grundlage für unsere Untersuchungen. Computergestützte Methoden sind von zentraler Bedeutung für unsere Forschung - wir wenden biophysikalische Modellierung und maschinelle Lerntechniken an und entwickeln neue analytische Methoden.
Wir legen Wert auf eine offene und transparente Wissenschaft, indem wir unseren gesamten Code auf GitHub zur Verfügung stellen und unsere Arbeiten mit offenem Zugang veröffentlichen. Unser Labor fördert eine Kultur der Forschung, der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts, in der wir gemeinsam lernen und wachsen. Im Folgenden stellen wir unsere wichtigsten Forschungsbereiche und Ziele vor:
Theoretische Neurowissenschaften: Prinzipien der Gehirnorganisation

Um zu verstehen, wie die Gehirnstruktur die Funktion sowohl einschränkt als auch ermöglicht, untersuchen wir ihre neurobiologischen, genetischen und evolutionären Grundlagen. Unsere bisherigen Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Gehirnstruktur genetisch entlang großräumiger Achsen organisiert ist (Valk et al., 2020, Science Advances), und haben die schichtspezifische Organisation des menschlichen Gehirns aufgeklärt (Saberi et al., 2023, PLOS Biology). Darüber hinaus haben wir vererbbare intrinsische mikrostrukturelle und funktionelle Asymmetrien in Gehirnregionen identifiziert, die an Sprache und Aufmerksamkeit beteiligt sind (Wan et al., 2022, eLife; Wan et al., 2024, Nature Communications).
Zukünftige Richtungen: Unser Ziel ist es, unser Verständnis der Organisation des menschlichen Gehirns zu vertiefen, indem wir multiskalige Datensätze integrieren, einschließlich neu erworbener ultrahochauflösender Daten mit 7-Tesla-MRT. Im Rahmen dieser Forschung werden wir biophysikalische Modelle erweitern und rechnerische Rahmenwerke entwickeln, um die Beziehung zwischen Gehirnstruktur und -funktion besser abzubilden. Darüber hinaus werden wir die Wechselwirkungen zwischen der Großhirnrinde und nicht kortikalen Regionen untersuchen, um eine umfassendere Perspektive darauf zu gewinnen, wie diese Wechselwirkungen zur Gesamtfunktion des Gehirns beitragen.
Neurobiologie: Lebensspanne und Plastizität

Unser zweiter Forschungsbereich konzentriert sich darauf, wie biologische Faktoren - einschließlich Genetik, Hormone und Immunreaktionen - die Struktur und Funktion des Gehirns über die gesamte Lebensspanne hinweg beeinflussen. Stresshormone wie Cortisol können die Gehirnfunktion beeinflussen, und genetische Veranlagungen prägen die neuronale Entwicklung im Zusammenspiel mit dem sozialen Umfeld. Unsere jüngsten Studien haben beispielsweise geschlechtsspezifische Unterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns nachgewiesen, was die Bedeutung der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Faktoren in der Hirnforschung unterstreicht (Küchenhoff et al., 2024, Nature Communications; Serio et al., 2024, Nature Communications).
Zukünftige Richtungen: Wir wollen diese Ergebnisse durch den Einsatz fortschrittlicher Computermodelle erweitern, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen Faktoren und der Gehirnstruktur zu untersuchen. Mithilfe von Längsschnittanalysen und großen offenen MRT-Datensätzen werden wir untersuchen, wie die Gehirnentwicklung durch endokrine Faktoren beeinflusst wird und wie Gene zur Variabilität der Gehirnstruktur sowohl zwischen Individuen als auch innerhalb von Individuen im Laufe der Zeit beitragen.
Soziale Neurowissenschaften: Individuelle Variabilität in Gesundheit und Krankheit

Während genetische Faktoren die Gehirnstruktur prägen, spielen Umwelteinflüsse - insbesondere die kontextspezifische Plastizität - eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Gehirnfunktion während der gesamten Lebensspanne. Das soziale Umfeld ist aufgrund der verlängerten Reifung der Großhirnrinde und der Auswirkungen des soziokulturellen Lernens besonders einflussreich. In früheren Arbeiten habe ich gezeigt, dass Veränderungen der Anforderungen des sozialen Umfelds, beispielsweise durch mentales Training, die kortikale Struktur und Funktion verändern und gleichzeitig die sozialen kognitiven Fähigkeiten verbessern können (Valk, 2017, Science Advances; Valk, 2023, eLife). Kürzlich haben wir gezeigt, dass die mikrostrukturelle Rekonfiguration des Gehirns mit einer widerstandsfähigen Anpassung während der Adoleszenz verbunden ist, was auf ein komplexes Zusammenspiel zwischen neurobiologischen Faktoren, internen Funktionsmodellen und der Anpassung an negative Erfahrungen hindeutet (Hettwer et al., 2024, Nature Communications). Wichtig ist, dass das Gehirn kein passiver Empfänger des sozialen Umfelds ist, sondern aktiv soziale Kognition produziert, um die Interaktionen mit anderen zu steuern. Kürzlich haben wir festgestellt, dass der Kleinhirn-Krus I/II eine zentrale Rolle bei der Entwicklung sozialer kognitiver Funktionen in der frühen Kindheit spielt (Manoli et al., bioRxiv).
Zukünftige Richtungen: Wir werden weiterhin untersuchen, wie soziale Faktoren mit der Struktur und Funktion des Gehirns interagieren, mit einem Schwerpunkt auf sozialem Stress und soziokognitiven Prozessen, und zwar durch Querschnitts- und Längsschnittstudien unter Verwendung fortschrittlicher Gehirnmodelle. In Zusammenarbeit mit der ENIGMA-Gradienten-Arbeitsgruppe werden wir auch transdiagnostische Marker für psychische Störungen untersuchen, um unser Verständnis der biologischen Mechanismen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen, zu vertiefen.
Implikationen und Anwendungen
Unser neurobiologisch-sozialer Rahmen bietet einen umfassenden Ansatz zum Verständnis des Zusammenspiels zwischen biologischen Faktoren, sozialem Umfeld und menschlichem Verhalten, der wichtige Auswirkungen auf zahlreiche Bereiche hat:
Neurowissenschaften: Unsere Forschung liefert neue Erkenntnisse und Modelle, um besser zu verstehen, wie das Gehirn in einer sich ständig verändernden Umgebung funktioniert, wobei die dynamische Interaktion zwischen Biologie und Kontext im Vordergrund steht.
Entwicklungs- und Lebensspannenpsychologie: Wir untersuchen, wie Lebenserfahrungen wie Erziehung, Bildung und Sozialisation mit biologischen Faktoren zusammenwirken, um die Entwicklung des Gehirns und die emotionale Regulierung über die gesamte Lebensspanne zu beeinflussen.
Psychische Gesundheit: Durch die Untersuchung der neurobiologischen Auswirkungen sozialer Umgebungen - wie Traumata oder unterstützende Beziehungen - wollen wir präzisere Präventionsstrategien, Diagnosen und Behandlungen für psychische Störungen wie Depressionen und Angstzustände entwickeln. Auch unterstreicht unsere Arbeit, wie wichtig es ist, soziale Ungleichheiten zu beseitigen, um die Gesundheitsergebnisse zu verbessern. Initiativen zur Verringerung der Kinderarmut und zur Verbesserung des Zugangs zur psychiatrischen Versorgung können einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gehirngesundheit der gesamten Bevölkerung haben.
Ethische Erwägungen: Unsere Forschung gibt Anlass zu wichtigen Diskussionen über die gesellschaftlichen Auswirkungen von genetischen und neurologischen Informationen. Wir betonen, wie wichtig es ist, sicherzustellen, dass solche Erkenntnisse zur Unterstützung und nicht zur Stigmatisierung von Personen verwendet werden.
Wir danken allen, die zu Initiativen für offene Daten beigetragen haben. Der Zugang zu diesen riesigen Datensätzen hat es uns ermöglicht, hochmoderne, multiskalige integrative Neurowissenschaften zu betreiben. Während der Lise-Meitner-Periode werden wir weiterhin offene Daten nutzen, Tools für eine breitere Nutzung entwickeln und neue Datensätze erstellen, die der breiteren neurowissenschaftlichen Gemeinschaft zugutekommen.
[1] World Health Organization. (2021). "Mental health and substance use: Improving mental health services."
[2] World Health Organization. (2022). "Social isolation and loneliness among older adults: An urgent public health problem."
[3] United Nations. (2018). "Early Childhood Development: A Global Strategy to Accelerate Action."
[4] United Nations. (2019). "A Child Rights-Based Approach to Nurturing Care."