Brocas Erben: Neue Überlegungen zur Funktion eines klassischen Sprachzentrums

Forschungsbericht (importiert) 2004 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Autoren
Bornkessel, Ina
Abteilungen
Neuropsychologie (Prof. Dr. Angela Friederici)
MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Zusammenfassung
Eines der wohl bekanntesten Sprachzentren des menschlichen Gehirns ist das so genannte Broca-Areal im linken Frontallappen. Während diese Hirnregion klassischerweise als Zentrum der Sprachproduktion angesehen wurde, entstand in den letzten Jahrzehnten großes Interesse an ihrer möglichen Beteiligung am Sprachverstehen. Dieses ging insbesondere auf erhöhte Aktivierungen beim Verstehen von Sätzen zurück, in denen das Objekt dem Subjekt vorangeht. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben kürzlich eine neue Erklärung für Befunde dieser Art vorgeschlagen. Sie gehen davon aus, dass das Broca-Areal entscheidend an der sequenziellen Anordnung unterschiedlicher sprachlicher Informationstypen beteiligt ist.

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Gehirn fasziniert die Menschheit bereits seit Tausenden von Jahren. Der Grundstein für die moderne Neurolinguistik wurde allerdings erst im 19. Jahrhundert gelegt, als Untersuchungen an verstorbenen Patienten mit Sprachstörungen auf einen spezifischen Zusammenhang zwischen bestimmten Hirnarealen und einzelnen sprachlichen Fähigkeiten hindeuteten. Zu dieser Zeit entdeckte auch der französische Neurologe Paul Broca (1824–1880) das nach ihm benannte Broca-Areal, welches lange Zeit als entscheidend für die Sprachproduktion galt.

Die Rolle des Broca-Areals beim Sprachverstehen: Befunde und Probleme

Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Funktionalität des Broca-Areals sich nicht auf die Sprachproduktion beschränkt, sondern auch Aspekte des Sprachverstehens unterstützt. Beispielsweise zeigen Patienten mit einer Schädigung des Broca-Areals erhebliche Schwierigkeiten beim Verständnis von Sätzen mit einer Objekt-vor-Subjekt-Abfolge. In solchen Sätzen wird der Handlungsträger eines Ereignisses erst nach dem Handlungserleidenden genannt. Dieses zuerst bei englischen Objektsrelativsätzen (vgl. Beispiel 1) beobachtete Ergebnis wurde durch spätere Befunde bildgebender Verfahren gestützt. So wurde mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) auch bei gesunden Probanden, die Sätze wie (1) hörten oder lasen, eine erhöhte Aktivierung des Broca-Areals festgestellt.

Beispiel (1)
The boy that the girl chased tripped over the dog.
Der Junge, dem das Mädchen hinterherjagte, stolperte über den Hund.

Aufgrund derartiger Befunde wurde eine Vielzahl von Modellansätzen vorgeschlagen, um die Rolle des Broca-Areals beim Sprachverstehen zu erklären. Diese unterscheiden sich dadurch, dass sie ihm eine sprachinterne beziehungsweise eine sprachunabhängige Funktion bei der Verarbeitung von Objekt-vor-Subjekt-Abfolgen zuschreiben. Oftmals ist es allerdings schwierig, beide Perspektiven voneinander zu trennen. Denn Sätze wie Beispiel (1) erfordern nicht allein den Einsatz zusätzlicher sprachlicher Regeln, damit eine korrekte Bedeutung abgeleitet werden kann, wie zum Beispiel bei der Rekonstruktion der Subjekt-vor-Objekt- bzw. „Handlungsträger-vor-Handlungserleidendem“-Abfolge. Sie sind auch aus sprachunabhängigen Gründen verarbeitungsaufwändiger. So entstehen zum Beispiel zusätzliche Arbeitsgedächtniskosten, da die Bedeutungszuordnung des von der Handlung betroffenen Objektes erst mit der Verarbeitung des handlungsauslösenden Subjekts stattfinden kann und es somit bis zu diesem Zeitpunkt vorübergehend im Gedächtnis gehalten werden muss. Darüber hinaus kommen Objekt-erst-Sätze seltener vor als Subjekt-erst-Sätze und führen auch bei gesunden Probanden zu höheren Fehlerraten. Jeder dieser Aspekte könnte also potentiell an der erhöhten Aktivierung des Broca-Areals beim Verstehen eines Satzes wie Beispiel (1) beteiligt sein.

Eine neue Hypothese: das Broca-Areal und die Linearisierung sprachlicher Abhängigkeiten

Neuere Befunde aus dem Deutschen, die eine Dissoziation zwischen den oben genannten Faktoren ermöglichen, deuten nun aber tatsächlich auf eine sprachinterne Funktion des Broca-Areals beim Verstehen von Objekt-erst-Abfolgen hin. Der Schluss basiert auf einer Reihe von fMRT-Studien, die Strukturen mit einer „natürlichen“ Objekt-vor-Subjekt-Abfolge untersuchte:

Beispiel (2)
a) Vielleicht hat ihn der Gärtner dem Rentner ausgeliehen.
b) Alle sahen, dass dem Lehrer der Tänzer gefiel.

Beide im Beispiel (2) genannten Sätze werden als mindestens ebenso akzeptabel eingeschätzt wie die vergleichbaren Strukturen mit einer Subjekt-vor-Objekt-Abfolge. Im Beispielsatz (2a) wird die Stellung des Objektpronomens ihn vor dem Subjekt durch die Regel des Deutschen begünstigt, dass Pronomen vor nicht-pronominalen Substantiven stehen sollten. Im Beispielsatz (2b) wird der Handlungsträger nicht als Subjekt, sondern als Objekt ausgedrückt (ob der Tänzer dem Lehrer gefällt, hängt allein vom Lehrer ab). Hier kann somit nur eine Objekt-vor-Subjekt-Abfolge gewährleisten, dass der Handlungsträger als erstgenannter Handlungsteilnehmer auftritt. Beide Satztypen weichen dennoch – ebenso wie (1) – von der Standardabfolge Subjekt-vor-Objekt ab und erfordern somit eine zusätzliche Regelanwendung zur Ableitung der objektsinitialen Reihenfolge. Sie sind ebenfalls mit erhöhten Arbeitsgedächtniskosten verbunden, da auch hier das Objekt vorübergehend gespeichert werden muss. Weiterhin kommt zumindest (2a) seltener vor als ein vergleichbarer Satz mit Subjekt-vor-Objekt-Abfolge. Somit sind die Sätze in Beispiel (2) sowohl mit Bezug auf die Notwendigkeit einer sprachlichen Regelanwendung als auch in Hinblick auf die kritischen außersprachlichen Parameter mit Sätzen vergleichbar, in denen keine Begünstigung einer Objekt-vor-Subjekt-Reihenfolge vorliegt (3). Der wichtige Unterschied zwischen beiden Arten von Sätzen besteht darin, dass nur in Beispiel (2) eine innersprachliche Rechtfertigung für die Abweichung von der Standardabfolge vorliegt.

Beispiel (3)
a) Vielleicht hat den Stift der Gärtner dem Rentner ausgeliehen.
b) Alle sahen, dass dem Lehrer der Tänzer half.

Der Aktivierungsunterschied zwischen den Sätzen im Beispiel (2) und vergleichbaren Strukturen mit einer Subjekt-vor-Objekt-Abfolge ist in den Abb. 2A (für 2a) und 3A (für 2b) dargestellt. Wie aus den Abbildungen ersichtlich ist, zeigt sich keine erhöhte Aktivierung des Broca-Areals, wenn die Objekt-erst-Abfolge durch andere sprachliche Faktoren gestützt wird. Ist dies nicht der Fall, führt eine Objekt-vor-Subjekt-Abfolge zu einem klaren Aktivierungsanstieg in dieser Region, wie die Abb. 2B und 3B für die Beispiele (3a/b) im Vergleich zu den Strukturen mit Subjekt-erst-Abfolge zeigen.

Diese Befunde deuten also – wie eingangs bereits angemerkt – darauf hin, dass die Rolle des Broca-Areals beim Sprachverstehen nicht auf außersprachliche Faktoren reduziert werden kann. Vielmehr sprechen sie für eine gänzlich neue Sichtweise auf die Funktionalität dieser Hirnregion, der zufolge das Broca-Areal entscheidend an der Linearisierung sprachlicher Informationen beteiligt ist. Die Grundidee dieser Linearisierungshypothese soll im Folgenden kurz erläutert werden.

Die kommunikative Funktion der Sprache basiert auf der Abbildung zwischen einer Form (Lauten, Worten, Gesten) und einer konzeptuellen Repräsentation (Bedeutung). Aufgrund der inhärent sequentiellen Natur sprachlicher Formen (wie beispielsweise des Lautstroms in der gesprochenen Sprache) setzt eine effiziente Umsetzung dieser Abbildung in Echtzeit eine sequentielle Anordnung diverser Informationsarten voraus, die die relative Prominenz dieser Informationen möglichst optimal wiedergibt. Dies bedeutet zum Beispiel, dass ein Subjekt idealerweise einem Objekt vorangehen sollte, ebenso wie ein Handlungsträger vor dem Handlungserleidenden genannt werden sollte. Während diese unterschiedlichen Anordnungsprinzipien in vielen Fällen ähnliche Ergebnisse liefern (Subjekte sind meist auch Handlungsträger), können sie in manchen Fällen miteinander in Konflikt stehen. Dies ist in Beispiel (2b) der Fall, welches zwar das Prinzip Handlungsträger-vor-Handlungserleidendem erfüllt, jedoch gegen das Prinzip Subjekt-vor-Objekt verstößt. Ähnliches gilt für das Analogon zu diesem Satz, in dem das Subjekt zuerst, der Handlungsträger aber zuletzt genannt wird. In einem Satz wie (3b) wiederum sind beide der entscheidenden Prinzipien verletzt, während die vergleichbare Struktur mit einer Subjekt-vor-Objekt-Abfolge gegen keines der beiden verstößt. Wie Abbildung 3C zeigt, folgt die relative Aktivierung des Broca-Areals für diese vier Satztypen direkt dieser Vorhersage: Satz (3b) ruft den höchsten und seine subjektsinitiale Vergleichsstruktur den geringsten Grad der Aktivierung hervor, während sich das Aktivierungsniveau für die beiden übrigen Satztypen dazwischen befindet. Die in Abb. 3 dargestellten Befunde können auf ähnliche Weise als Resultat einer Interaktion zwischen dem Subjekt-erst-Prinzip und der bereits beschriebenen Pronomen-vor-nicht-Pronomen-Regel erklärt werden. In beiden Fällen ist der Aktivierungsgrad des Broca-Areals ein Indikator für die Optimalität der Linearisierung bestimmter sprachlicher Abhängigkeiten.

Im Gegensatz zu allen anderen Erklärungsansätzen sagt die Linearisierungshypothese voraus, dass Aktivierungsunterschiede im Broca-Areal auch in subjektsinitialen Sätzen hervorgerufen werden können. Beispiel (4) zeigt einen Testfall für diese Hypothese.

Beispiel (4)
Peter behauptet, ...
a) dass Carsten Physikerinnen half.
b) dass Physikerinnen Carsten halfen.

Obwohl in beiden unter (4) genannten Beispielen sowohl die Subjekt-vor-Objekt-Regel als auch das Handlungsträger-vor-Handlungserleidendem-Prinzip erfüllt sind, wird (4b) von deutschen Muttersprachlern im Vergleich zu (4a) als weniger akzeptabel eingeschätzt. Diese Abstufung ergibt sich aus einem in vielen Sprachen zu beobachtenden Vorteil für Abfolgen, in denen genau spezifizierte (und somit meist bekannte) Handlungsteilnehmer (Carsten) weniger eindeutig spezifizierten Handlungsteilnehmern (Physikerinnen) vorangehen. Wie nicht anders zu erwarten, führt eine Verletzung dieses Prinzips ebenfalls zu einer erhöhten Aktivierung des Broca-Areals (Abb. 4).

In der Gesamtheit kann man konstatieren, dass die Bedeutung der hier diskutierten Daten nicht allein darin liegt, dass sie die Rolle des Broca-Areals beim Sprachverstehen zu klären helfen. Vielmehr zeigen sie ebenfalls, dass neurolinguistische Befunde oftmals eine feinkörnige Beschreibungsebene verlangen, die nicht durch einen undifferenzierten Verweis auf gewisse Regeln oder Prinzipien der Sprache ersetzt werden kann.

Originalveröffentlichungen

1.
R.M.E. Sabbatini:
Phrenology: the History of Brain Localization.
Brain & Mind, March 1997 (E-Journal, State University of Campinas, Brazil).
2.
I. Bornkessel, S. Zysset, A.D. Friederici, D.Y. von Cramon, M. Schlesewsky:
Who did what to whom? The neural basis of argument hierarchies during language comprehension.
Neuroimage 26, 221–233 (2005).
3.
T. Grewe, I. Bornkessel, S. Zysset, R. Wiese, D.Y. von Cramon, M. Schlesewsky:
The emergence of the unmarked: A new perspective on the language-specific function of Broca’s area.
Human Brain Mapping (2005, im Erscheinen).
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