Sprache, die große Unbekannte

2. März 2020

Sprache zu nutzen ist für jeden alltäglich. Wir plaudern, lauschen, notieren, formulieren, diskutieren. Trotzdem weiß man bislang wenig über diese selbstverständliche und doch hochkomplexe Fähigkeit. Welche Sprechgeschwindigkeit ist die beste, damit der andere möglichst viel Inhalt aufnimmt? Warum ist Sprache so aufgebaut, wie sie aufgebaut ist? Und was passiert eigentlich, wenn eines der für Sprache notwendigen Areale ausfällt? Fragen, denen sich zwei neue Forschungsgruppen am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) stellen – und so mehr Klarheit über diese den Menschen vorbehaltene Fähigkeit schaffen.

Jeder kennt es: Eine Person redet zu schnell, ohne Punkt und Komma und serviert zu viele Informationen in zu wenig Zeit. Es fällt schwer, ihr zu folgen. Selbst wenn man sich konzentriert, die Aufnahmefähigkeit ist irgendwann überschritten. Gleichzeitig ertragen wir es kaum, wenn eine Person zu langsam spricht, uns zu wenige Inhalte je Zeiteinheit darlegt. Es scheint also einen vorgegebenen Takt zu geben, innerhalb dessen unser Gehirn Information extrahieren kann. Lars Meyer und seine Forschungsgruppe „Sprachzyklen“ wollen ihn finden.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind klassische Ergebnisse der Verhaltensforschung: Wörter, die innerhalb eines bestimmten zeitlichen Abschnitts gehört werden, verknüpfen wir inhaltlich eng miteinander – enger als mit denen, die davor oder danach auftauchen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Zuordnung auf einen vorgegebenen Arbeitstakt des Gehirns zurückzuführen ist.

Deutlich wird das an zweideutigen Sätzen, die je nach Verknüpfung der Worte einen anderen Sinn ergeben. Ein Beispiel: „Der Mann sieht die Frau mit dem Fernglas“ lässt sich auf zweierlei Arten interpretieren. Wer hat das Fernglas bei sich – der Mann oder die Frau? Die meisten ordnen das Gerät gedanklich dem Mann zu. Meyers Verdacht: „Der Mann sieht die Frau“ wird innerhalb des gleichen Verarbeitungsfensters ausgesprochen, „Fernglas“ fällt in das nächste. „Frau“ wird somit nicht mit dem „Fernglas“ in Verbindung gebracht (Abb. 1). Und das nicht nur, wenn der Sprecher nach „Frau“ eine Pause oder andere sprachliche Betonung einlegt. Der Zuhörer gliedert den Satz selbst dann in diese Segmente, wenn er als monotone Wortfolge ertönt. Das Gehirn strukturiert die Sprache also nicht anhand eines akustischen Reizes – sondern eigenmächtig.

Das Gehirn gibt den Takt an

Warum diese Zeitfenster? „Die Elektrophysiologie unseres Gehirns ist zyklisch. Unsere Nervenzellen nehmen Information nicht als kontinuierlichen Datenstrom auf, sondern als sukzessive Häppchen“, erklärt Meyer. Die Dauer der Zyklen gibt demnach vor, wie lang die Häppchen sind, in die das Gehirn Informationen portioniert. „Brrr-brrr für Wortgruppen“, erklärt der Linguist während er eine knapp drei Sekunden dauernde Wellenbewegung aufzeichnet, „Bip-bip-bip für einzelne Silben“, und ergänzt die kurzen Frequenzen innerhalb der langen Welle (Abb. 1).

Was man bislang nicht weiß: Wieviel das Gehirn innerhalb einer Einheit verarbeiten kann und welche Inhalte besonders effizient aufgenommen werden. Denn je nach Länge und Anzahl der Wörter ballen sich innerhalb eines Verarbeitungszyklus unterschiedlich viele Informationen. Zudem: Gelten diese Zeiteinheiten für alle Sprachen der Welt? Sind sie vielleicht der Grund dafür, dass von Russisch bis Japanisch Informationen in größere Einheiten – Wörter, Phrasen, Sätze – verpackt werden?

Untersuchen wollen die Forscher diese Zusammenhänge in ihren Studien mithilfe von Elektro- und Magnetenzephalografie – und einem echten Klassiker. Übersetzt in 25 Sprachen lauschen die Studienteilnehmer dem „kleinen Prinz“ in ihrer Muttersprache und entscheiden, an welcher Stelle für sie eine Informationseinheit endet.

„Die Erkenntnisse können helfen, Audiobooks, Sprachlernprogramme oder gar den Unterricht an Schule oder Universität zu optimieren“, erklärt Meyer. Wenn man wisse, wie Sprache aussehen müsste, um möglichst viele Inhalte aufzunehmen, könnte man Lernen in Zukunft effizienter gestalten.

Wenn die Sprache ausfällt

Lernen spielt auch in der Arbeit von Gesa Hartwigsen eine große Rolle. Bei ihr geht es jedoch weniger darum, Inhalte bestmöglich zu begreifen. Sie will wissen, wie man das eigentliche Werkzeug dafür, die Sprache, wiedererlangt, wenn sie nach einem Schlaganfall oder Unfall plötzlich ausbleibt. Ihre Forschungsgruppe „Kognition und Plastizität“ will herausfinden, was im Gehirn passiert, wenn Sprachareale verletzt sind – und wie es versucht, den Schaden auszugleichen.

Frühere Studien hatten gezeigt: Das gelingt unterschiedlich gut. In einigen Fällen konnten die Betroffenen ihre Sprache fast vollständig wiedergewinnen, in anderen nicht. Entscheidend dafür ist vor allem, welches Areal beschädigt wurde. Je grundlegender die Funktion, die die Region übernommen hat, desto unwahrscheinlicher, dass sie wiedererlangt wird. Welche Mechanismen wiederum im Erfolgsfall wirken, ist jedoch bislang unklar.

Hartwigsen und ihr Team wollen das ändern. Sie nutzen dazu vor allem zwei Methoden: die funktionelle Magnetresonanztomographie, mit der man Aktivitäten im Gehirn beobachten kann, und die sogenannte transkranielle Magnetstimulation, kurz TMS. Mithilfe der TMS lassen sich einzelne Hirnregionen gezielt für kurze Zeit stören. Anders als beim Schlaganfall kommen hier aber keine Nervenzellen zu Schaden. Die Unterbrechungen sind kurz und vorübergehend und wirken sich meist nur darauf aus, wie schnell Informationen verarbeitet werden. Die Wissenschaftler können so beobachten, wie das Gehirn auf einen Ausfall reagiert – und ob die Sprache darunter leidet.

Beeinträchtigen sie etwa für einen Augenblick das Areal für die Wortbedeutung, haben die Probanden keine sprachlichen Probleme. Sie können weiterhin zuordnen, ob „Katze“ ein vom Menschen geschaffenes Objekt ist oder etwas natürlich Vorkommendes. Gleichzeitig werden die Nachbarregionen aktiver, die eigentlich die Lauteigenschaften der Sprache verarbeiten und Teil des Arbeitsgedächtnisses sind. Offensichtlich können die die Störung ausgleichen.

Sprache als Modell für flexible Anpassung im Gehirn

Doch Hartwigsen will mehr. Sprache dient ihr als Modell, um zu verstehen, wie das Gehirn und seine Netzwerke allgemein mit Veränderungen umgehen. Wie reagiert es auf zusätzliche Herausforderungen? Und was passiert generell, unabhängig vom Sprachsystem, wenn einzelne Teile ausfallen?

Bislang weiß man, das Gehirn ist lebenslang flexibel. Es versucht ständig, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Je nach Situation greift es dabei auf unterschiedliche Mechanismen zurück. Um die zu verstehen, lohnt ein Blick hinter die Kulissen höherer kognitiver Fähigkeiten wie Sprache, soziale Interaktion oder Problemlösen. Das Gehirn verarbeitet diese Funktionen in Netzwerken. Einzelne Knotenpunkte darin übernehmen bestimmte Rollen, die im Zusammenspiel die eigentliche Funktion ergeben. Ist einer der Knoten beeinträchtigt oder überlastet, kann der seine Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllen. Das Gehirn sucht nach Auswegen.

Bislang sind drei dieser Notfallpläne bekannt, die Hartwigsen in ihrem Kompensationsmodell zusammengeführt hat (Abb. 2). Ein Weg: Das Gehirn fährt andere Knotenpunkte im Netzwerk hoch und verlagert einen Teil der Arbeit dorthin. Eine zweite Variante: Das Gehirn greift auf das Pendant in der anderen Hirnhälfte zu. Sprachnetzwerke etwa liegen meist vor allem auf der linken Seite. Die bis dahin kaum genutzten Schwesterareale auf der rechten Seite leisten dann ihre Unterstützung. Sollten die beiden Optionen nicht ausreichen, kann das Gehirn schließlich auf Areale zugreifen, die ursprünglich nichts mit der eigentlichen Fähigkeit am Hut haben – sondern etwa mit generellen Kompetenzen wie Aufmerksamkeit und dem Arbeitsgedächtnis. Allgemeine Funktionen können damit spezielle Funktionen unterstützen. Ein Phänomen, das vor allem von Schlaganfallpatienten bekannt ist. Erholt sich bei ihnen die Sprache, hat das Gehirn meist ebendiese Netzwerke – Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis – hinzugezogen.

Sprache zu erforschen bedeutet nicht nur, die Taktung des Gehirns und seine Anpassungs- und Regenerationsfähigkeit besser zu begreifen. Es bedeutet vor allem, das zu verstehen, was den Menschen zum Menschen macht, erklärt Angela D. Friederici, Leiterin der Abteilung Neuropsychologie und Direktorin am MPI CBS, im Interview darüber, warum Affen nicht sprechen.

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