Ein Navigationssystem für unsere Gedanken

Forschungsbericht (importiert) 2018 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Autoren
Bellmund, Jacob L. S.; Doeller, Christian F.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Abteilung Psychologie
DOI
Zusammenfassung

Wie organisiert unser Gehirn Erfahrungen und Wissen? Eine mögliche Antwort auf diese zentrale Frage zur Funktionsweise unseres Denkens: Das Navigationssystem unseres Gehirns bildet sogenannte kognitive Räume, in denen wir Erfahrungen anhand ihrer Merkmale anordnen. Zu dieser Schlussfolgerung gelangten wir durch die Kombination einer Vielzahl an Befunden zur Arbeitsweise von Ortszellen im Hippocampus und Rasterzellen im entorhinalen Cortex, die unsere räumliche Orientierung ermöglichen. Diese Zellen kartieren auch kognitive Räume, die möglicherweise unseren Gedankengängen zugrunde liegen.

Ein Navigationssystem für unsere Denkinhalte

Was ein Globales Positionsbestimmungssystem (GPS) ist, weiß heute beinahe jeder und auch, dass man dieses System für die Navigation im Raum nutzt. Weniger klar ist allerdings den meisten, dass das menschliche Gehirn selbst über eine Art Navigationssystem verfügt: das Orts- und Rasterzellensystem. Wir haben Erkenntnisse einer Vielzahl von Studien zu der Idee kombiniert, dass unser Gehirn nicht nur räumliche Erfahrungen, sondern vielmehr unser Denken an sich mithilfe unseres inneren Navigationssystems organisiert [1]: Wir nehmen nun an, dass dieses Navigationssystem auch „kognitive Räume“ kartiert, in denen Erfahrungen oder Objekte entlang ihrer spezifischen Merkmale angeordnet sind.

John O’Keefe beschäftigte sich bereits seit den 1970er-Jahren mit der Idee von kognitiven Karten im Gehirn. Seine Forschung an Ratten hatte ihn zur Entdeckung der sogenannten Ortszellen im Hippocampus der Tiere geführt. Ein Forscherteam um May-Britt und Edvard Moser entdeckte später die Rasterzellen im entorhinalen Cortex von Ratten. Gemeinsam mit weiteren Zelltypen, die beispielsweise die Richtung unseres Kopfes signalisieren, bilden sie einen Schaltkreis im Gehirn zur räumlichen Orientierung. Für die Entdeckung dieses „GPS im Gehirn“ erhielten die Forscher 2014 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Ihre Entdeckung eröffnete eine ganz neue Denkrichtung darüber, wie Gruppen spezieller Zellen im Gehirn zusammenarbeiten.

Weitere Studien fanden dieses Orts- und Rasterzellensystem auch im menschlichen Gehirn, Ortszellen im Hippocampus und Rasterzellen im entorhinalen Cortex. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) konnten sehr spezifische Aktivitätsmuster im entorhinalen Cortex, die vermutlich auf Rasterzellen zurückgehen, beim Menschen nachgewiesen werden [2]. Interessanterweise waren diese Aktivitätsmuster nicht nur dann vorhanden, wenn Studienteilnehmer durch geografische Räume navigierten [2], sondern auch, während sie sich geistige Konzepte erschlossen [3].

In einem Experiment wurden den Studienteilnehmern beispielsweise Bilder von Vögeln gezeigt, die sich in der Länge ihres Halses und ihrer Beine unterschieden [3]. Parallel dazu wurden verschiedene Symbole eingeblendet, etwa ein Baum oder eine Glocke. Ein Vogel mit langem Hals und kurzen Beinen sollte so gedanklich mit dem Baum, ein Vogel mit kurzem Hals und langen Beinen mit der Glocke verknüpft werden. Das Verblüffende dabei: Als die Teilnehmer anschließend im fMRT in einem Gedächtnistest angeben sollten, welches Symbol jeweils zu eingeblendeten Vögeln verschiedener Hals- und Beinlänge gehörte, zeigte ihr entorhinaler Cortex die gleichen Aktivitätsmuster wie beim Orientieren in einer echten Umgebung – die Rasterzellen im entorhinalen Cortex hatten also den neuen kognitiven Raum kartiert.

Dass die Rasterzellen für unsere geistigen Fähigkeiten wichtig sind, legen darüber hinaus weitere Studien nahe, die wir durchgeführt haben: So lassen sich die besonderen Aktivitätsmuster des entorhinalen Cortex mittels fMRT auch nachweisen, wenn wir uns vor unserem geistigen Auge vorstellen, was wir sehen würden, wenn wir von bestimmten Orten in einer bekannten Umgebung in verschiedene Richtungen schauten [4]. Ebenso lassen sich diese Aktivitätsmuster im entorhinalen Cortex beobachten, während wir unser Sichtfeld mit Augenbewegungen erkunden [5].

Wie wir Neues einordnen

Diese Prozesse dienen uns vermutlich insbesondere dazu, neue Objekte und Situationen zu erschließen, selbst wenn wir sie zuvor nie erlebt haben. Mithilfe bereits vorhandener „mentaler Karten“ können wir einschätzen, wie ähnlich das Neue dem bereits Bekannten ist, sodass wir es dann in Relation dazu entlang der existierenden Achsen einordnen. Kennen wir etwa Tiger und Löwen, haben aber noch nie einen Leoparden gesehen, dann würden wir ihn wegen seines Aussehens an eine ähnliche Position in unserem kognitiven Raum setzen wie die anderen Raubkatzen (Abb. 2). Durch unser Wissen über das Konzept „Raubkatze“, das wir bereits in unserer mentalen Karte abgespeichert haben, könnten wir dann auch auf den Leoparden entsprechend reagieren. Wir können so zu Generalisierungen gelangen, die uns abschätzen lassen, wie wir uns in einer neuen Situation verhalten sollten.

Ein Modell der Organisation unseres Wissens

Wir haben nun alle bisherigen Erkenntnisse zusammengebracht und gehen davon aus, dass das Gehirn eine mentale Karte speichert, unabhängig davon, ob es sich um einen gedanklichen oder einen realen Raum handelt. Unsere Gedankengänge werden demnach wie Pfade durch einen Raum und entlang von geistigen Achsen verarbeitet. Daher vermuten wir, dass unser inneres Orientierungssystem für noch weit mehr zuständig ist als die Navigation: Hierin könnte der Schlüssel für das generelle Verständnis von Denkprozessen liegen und uns auf den Weg zu einer Antwort auf die fundamentale Frage, wie das menschliche Denken überhaupt funktioniert, bringen.

Ausgehend von den Ergebnissen zahlreicher Studien nehmen wir an, dass das Gehirn alle Informationen, die wir aus der Umgebung aufnehmen, in sogenannten kognitiven Räumen organisiert und speichert [1]. Das betrifft nicht nur rein geografische Daten, sondern vor allem auch solche über Zusammenhänge zwischen Objekten und Erfahrungen. Als kognitive Räume bezeichnen wir dabei innere Karten, in denen wir mental die komplexe Realität vereinfacht anordnen und abspeichern. Jedes Objekt, egal ob Person oder Gegenstand, trägt verschiedene Eigenschaften, die sich durch Verortung auf verschiedenen Skalen beschreiben lassen. Je nach Eigenschaft liegen Objekte dann nah zusammen oder weit voneinander entfernt im kognitiven Raum. Vergleichbar mit den mentalen Karten, die sie für den uns umgebenden physischen Raum bilden, kartieren die Ortszellen im Hippocampus und die Rasterzellen im entorhinalen Cortex auch diese kognitiven Räume.

Literaturhinweise

1.

Bellmund, J. L. S.; Gärdenfors, P.; Moser, E. I., Doeller, C. F.

Navigating cognition: Spatial codes for human thinking
Science 362 (6415), eaat6766 (2018)
2.

Doeller, C. F.; Barry, C.; Burgess, N.

Evidence for grid cells in a human memory network
Nature 463, 657–661 (2010)
3.

Constantinescu, A. O.; O’Reilly, J. X.; Behrens, T. E. J.

Organizing conceptual knowledge in humans with a gridlike code
Science 352 (6292), 1464–1468 (2016)
4.
Bellmund, J. L. S.; Deuker, L.; Navarro Schröder, T.; Doeller, C. F.
Grid-cell representations in mental simulation
eLife 5: e17089 (2016)
5.

Nau, M.; Navarro Schröder, T.; Bellmund, J. L. S.; Doeller, C. F.

Hexadirectional coding of visual space in human entorhinal cortex

Nature Neuroscience 21, 188–190 (2018)

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