Schmerz ist nicht gleich Schmerz: Wie das Rückenmark unsere Wahrnehmung beeinflusst

27. März 2018

Wahrnehmung ist etwas, das wir vor allem mit dem Gehirn und seiner Großhirnrinde verbinden. Doch auch der zweite, weniger beachtete Teil unseres Zentralnervensystems scheint eine wesentliche Rolle dabei zu spielen, was wir empfinden: das Rückenmark. Prozesse in dieser daumendicken, evolutionär sehr alten Struktur aus Nervenzellen und -fasern in unserer Wirbelsäule bewirken etwa, dass wir Schmerz sehr unterschiedlich erleben – und manchmal selbst bei starken Verletzungen kaum etwas spüren.

Wie das genau funktioniert, ist jedoch bisher wenig erforscht. Diesem Einfluss des Rückenmarks auf unser subjektives Schmerzempfinden will sich nun Falk Eippert in seiner neuen Forschungsgruppe „Schmerzwahrnehmung“ widmen, die diesen Monat am MPI CBS startet. Mit ihm sprachen über die Rolle von Erwartungen bei Schmerzen, die Wirkung von Placebos und unser niemals ruhendes Rückenmark.

Herr Eippert, Sie starten in diesem Monat mit ihrer neuen Forschungsgruppe zum Thema Schmerzempfinden am MPI CBS. Was fasziniert Sie an dem Thema besonders?

Schmerz hat zwei Seiten. Einerseits ist er ein überlebenswichtiges Signal, das uns auf drohende oder tatsächliche Verletzungen hinweist. Menschen, die genetisch bedingt keinen Schmerz empfinden können, erreichen selten ein hohes Lebensalter, da sie genau diese Schutzfunktion nicht haben. Andererseits kann Schmerz aber auch, insbesondere in seiner chronischen Form, das Leben enorm beeinträchtigen. Besonders interessant finde ich dabei, dass wir einen physikalisch gleichen Schmerzreiz manchmal als sehr unterschiedlich schmerzhaft empfinden.

Woran liegt das?

Entscheidend scheint hierfür zu sein, wie der Einzelne Schmerz wahrnimmt. Man ist lange davon ausgegangen, dass Wahrnehmung vor allem darauf beruht, dass wir passiv Reize von außen empfangen: es fällt Licht auf meine Netzhaut, deswegen kann ich Sie sehen; mein Trommelfell empfängt Schallwellen, also höre ich Sie. In den letzten Jahren ist man jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass unsere Wahrnehmung auch stark davon beeinflusst wird, was wir gelernt haben. Denn daraus leiten wir eine Erwartung ab, was als nächstes passiert. Wahrnehmung ist damit zu großen Teilen auch etwas Aktives.

In Bezug auf Schmerz zeigt sich das auch bei chronischen Schmerzpatienten. Die wissen ziemlich genau, was auf sie bei zum Beispiel bei einer bestimmten Bewegung zukommt, weil sie es über lange Zeit gelernt haben. Ich will nun herausfinden, wie diese Vorprägungen oder erlernten Erwartungen einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Schmerz haben können. Es kann also Unterschiede geben zwischen den Schmerzsignalen, die etwa aus einem Gelenk kommen, und dem was schon im Zentralnervensystem gespeichert ist.

Auf Erwartungen baut ja auch der von Ihnen intensiv untersuchte Placebo-Effekt.

Genau. Wir erwarten ja generell, dass wir nach der Einnahme eines Schmerzmittels weniger Schmerzen verspüren, da wir das im Laufe unseres Lebens gelernt haben. Interessant wird es nun, wenn wir ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff, ein Placebo, zu uns nehmen, in dem Glauben, dass es ein echtes Schmerzmittel ist. In diesem Fall führt allein unsere gelernte Erwartungshaltung dazu, dass die Schmerzimpulse im Zentralnervensystem tatsächlich runtergefahren werden. Während meiner Doktorarbeit in Hamburg konnten wir zeigen, dass eine solche Erwartungshaltung die körpereigenen Schmerzhemmer aktiviert, vor allem Endorphine. Diese Stoffe wirken dann dämpfend auf die Schmerzneurone im Rückenmark und wir spüren tatsächlich weniger Schmerzen.

Was wollen Sie in diesem Bereich in den nächsten Jahren am MPI CBS herausfinden?

Ich will nun untersuchen, welche Mechanismen dahinterstecken, dass Erfahrungen unser Schmerzempfinden beeinflussen, und wie in dieses Schema möglicherweise therapeutisch eingegriffen werden kann. Dabei will ich insbesondere herausfinden, ob eine aktuelle Vorstellung davon, wie unsere visuelle oder auditorische Wahrnehmung funktioniert, das sogenannte predictive coding, zu deutsch etwa ‚vorausschauendes Verarbeiten’, auch für die Wahrnehmung von Schmerz gilt. Nach diesem Modell macht das Gehirn jederzeit Voraussagen über die nächsten Sinnesreize, gleicht sie mit dem Ist-Zustand ab und gibt nur die unerwarteten Abweichungen, sogenannte prediction errors oder ‚Vorhersagefehler’, an die nächsthöhere neuronale Ebene weiter. Das Gehirn „interessiert“ sich demnach vor allem für die Abweichungen, da diese wertvolle neue Informationen enthalten. Bisher wird davon ausgegangen, dass diese Prozesse hauptsächlich im Großhirn, dem Kortex, ablaufen.
Wir vermuten aber, dass bei diesen Prozessen, die der Wahrnehmung zugrunde liegen, auch dem Rückenmark eine wichtige Rolle zukommt, diesem evolutionär sehr alten System, das sich über die verschiedenen Wirbeltiergruppen kaum verändert hat.

Inwiefern? Welche Rolle spielt das Rückenmark für unser Schmerzempfinden?

Genau das wollen wir herausfinden. Wir wissen, dass es die erste Schaltstation für unsere Schmerzverarbeitung auf dem Weg zum Gehirn ist. Hier kommen die Schmerzimpulse aus allen Bereichen des Körpers an, es ist gewissermaßen das Nadelöhr. Jegliche Veränderung der Schmerzverarbeitung an dieser zentralen Stelle kann also weitreichende Folgen für die höherliegenden Hirnareale haben.
Als erste Station der Schmerzverarbeitung ist das Rückenmark auch gleichzeitig die erste Stelle, an der Schmerz gehemmt werden kann. Hier verrichten die Endorphine ihren Dienst. Daher vermuten wir, dass auch das Rückenmark eine wesentliche Rolle dabei spielt, warum wir den gleichen Schmerz oft unterschiedlich stark wahrnehmen, wenn wir beispielsweise abgelenkt sind oder der Placebo-Effekt wirkt.

Wahrnehmung und Rückenmark, wie passt das eigentlich zusammen? Ist Wahrnehmung nicht etwas, das als höhere geistige Leistung im Cortex verarbeitet wird?

Gute Frage – letzteres würde ich mit ja beantworten. Trotzdem kann Wahrnehmung schon auf tieferen Ebenen des Zentralnervensystems anfangen. Eine Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass Personen, die durch kognitive Strategien wie Ablenkung  besonders gut ihre Schmerzimpulse auf der Ebene des Rückenmarks hemmen können, auch deutlich weniger Schmerz spüren. Psychologische Faktoren wie unsere Erwartungshaltung scheinen also schon tief im Zentralnervensystem zu wirken.

Wichtig ist außerdem, dass sich Schmerz aus vielen Komponenten zusammensetzt, also etwa „Wo tut etwas weh, wie stark und wie unangenehm ist das?“. Diese verschiedenen Faktoren werden in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns verarbeitet. Möglicherweise liegen die Anfänge dieser vielfältigen Empfindungen bereits im Rückenmark. Das ist ein weiterer Punkt den wir erforschen möchten. Das wird jedoch eine große Herausforderung, da sich das Rückenmark nur schwer untersuchen lässt.

Warum?

Das Rückenmark ist nur etwa daumendick. Mit den gängigen Aufnahmemethoden der  Magnetresonanztomographie erreichen wir Auflösungen  von einem Millimeter, das heißt wir bekommen im Querschnitt lediglich 10-15 Aufnahmepunkte. Zum anderen liegt es sehr nah an der Lunge und wird durch den Herzschlag beeinflusst. Jedes Mal, wenn wir atmen und unser Herz schlägt, wird die Aufnahme verwackelt, und das um ein Vielfaches stärker als bei Aufnahmen vom Gehirn

Neben der Wahrnehmung von Schmerz, was wollen Sie in den kommenden Jahren noch am MPI CBS untersuchen?

Wegen der beschriebenen Schwierigkeiten wollen wir auch die Methoden verbessern, mit denen sich das Rückenmark untersuchen lässt. Also beispielsweise Modelle entwickeln, über die sich die Störsignale von Herz und Lunge herausrechnen lassen und außerdem Methoden entwickeln mit denen wir zu Auflösungen von kleiner einem Millimeter gelangen.

Gleichzeitig wollen wir generell besser verstehen, wie das wenig erforschte Rückenmark funktioniert. Welchen Anteil der Wahrnehmung übernimmt es eigentlich, wo wird etwa die Intensität unserer Schmerzreize verarbeitet? Wie arbeiten die verschiedenen Teile des Rückenmarks zum Beispiel im Hals- und Lendenwirbelbereich zusammen? In Oxford haben wir außerdem herausgefunden, dass das Rückenmark ebenso wie das Gehirn niemals schläft, selbst wenn wir nichts tun. Bisher wurden diese ständigen, schwankenden Aktivitäten oftmals mit höheren geistigen Fähigkeiten im Cortex verknüpft. Unsere Erkenntnisse könnten nun entweder auf einen kontinuierlichen Informationsfluss zwischen Rückenmark und Hirn oder spontane Aktivitäten von autonomen Zentren im Rückenmark hinweisen. Sie sehen, das Rückenmark ist ein recht unerforschtes Terrain, dem wir uns nun ausführlich widmen möchten.

Wir freuen uns auf Ihre Erkenntnisse. Herr Eippert, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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