Ganz vorn und mitten drin - der Trieb des Selbst
Es ist ein gruseliges Syndrom: Die Betroffenen bewegen sich nicht von allein; sie reden nicht; sie essen nicht, sie trinken nicht. Obwohl hellwach, sind Patienten mit dem "akinetischen Mutismus" wie eingemauert. Ein Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma hat weite Teile ihres linken und rechten Stirnhirns ausgelöscht. Ohne eigenes Handeln, agieren diese Menschen ausschließlich auf Kommando - wie Roboter. Wenn es so etwas wie die Abwesenheit von freiem Willen gibt, dann hier.
Die Symptome können auch wesentlich schwächer ausgeprägt sein; selbst dann vermögen die Patienten Handlungsroutinen nicht mehr alleine anzufangen oder zu beenden. Wesentliches Kennzeichen ist also der katastrophale Antriebsmangel. Hier geht es um das "Selbst" des Menschen, die ureigene Fähigkeit, seine Absichten in Handlung umzusetzen. Nach den Patienten-Daten müssen diese "Volitionsprozesse" irgendwo im so genannten Frontallappen des Gehirns verborgen sein. Eine Serie von Experimenten im MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) hat nun gezeigt, dass ein ganz bestimmtes Areal die Volition verarbeitet - der "frontomediane Kortex" (FMK) gleich hinter der Stirn, ganz zentral. "Das ist fast symbolhaft", sagt MPI-Direktor D. Yves von Cramon, "alle Prozesse, die mit dem Ich zu tun haben, sind in die Mitte des Großhirns gepackt worden."
Mit dem FMK beäugen die Wissenschaftler einen zentralen Punkt der menschlichen Existenz. Wer wie Homo sapiens sein Interesse von sich aus auf die Welt lenken will, sogar die Umwelt in seinem Sinne verändern will, braucht dazu eine innere Anstrengungsbereitschaft. "Und die läuft nicht im Sinne eines freien Willens", betont von Cramon, sondern meist unbewusst. Das mag erstaunen, weil es die Hirnforscher gerade im Frontallappen mit Gefühlen und sozialem Verhalten, mit Planen und Entscheidungen und Lernen zu tun haben.
Doch wie klammheimlich der frontomediane Kortex arbeitet, zeigt beispielsweise ein Experiment zum "Sequenzlernen". Den Testpersonen wurde auf einem Block eine Ziffernfolge mit einer bestimmten Regelmäßigkeit vorgelegt. "Irgendwie sei da etwas", erklärten sie nach einer Weile. Doch auch auf Nachfrage konnten sie die Struktur nicht konkret angeben. Sie hatten ein vages Gefühl, mehr nicht. Trotzdem leuchtete in den Magnetresonanzbildern des Gehirns der FMK deutlich auf. Bekamen die Testpersonen hingegen völlig zufällig aneinandergereihte Ziffern zu sehen, zeichnete sich nur das übliche neuronale Rauschen ab.
"Schon so ein simpler Versuch zeigt, welch hohe innere Anstrengungsbereitschaft es braucht, um Sinn von Unsinn zu unterscheiden", sagt D. Yves von Cramon, "aber die ist nicht bewusstseinspflichtig." Die meisten der so genannten exekutiven Funktionen, die unsere Handlungen, also auch unseren Willen steuern, spult unser Gehirn automatisch ab. "Es wäre sehr schlecht, wenn wir Anstrengungsbereitschaft jedes Mal intentional hinzufügen oder wegnehmen müssten." Nach den jüngsten Experimenten vermutet der Neurologe "einen Funktionskreislauf ohne Anfang und Ende". Das bedeutet, dass sich bewusste und unbewusste Motivation im frontomedianen Kortex gegenseitig beeinflussen, ohne den berühmten Homunkulus, der den ersten Anstoß gibt. Die Handlungsbereitschaft kommt von innen heraus und ist doch abhängig von den Erfahrungen des Menschen: "Die individuelle Persönlichkeit formt diese Faktoren entscheidend." Wer sich selbst in seinen Fähigkeiten über- oder unterschätzt - bedingt durch unterschiedliche Erlebnisse in jungen Jahren - "engt die Aktivierung des frontomedianen Kortex ein."
Zudem arbeitet das Gehirn wahrscheinlich mit Schwellen, jenseits derer eine automatisierte in eine bewusste Verarbeitung umschlägt - etwa wenn das System bei schwierigen Aufgaben in Konflikte gerät und womöglich Fehler korrigieren muss. Die sind programmiert, weil auf dem Weg von einer Absicht zur Handlung rasch verschiedene Optionen ausgelotet werden müssen. Für die Beseitigung von Fehlern hat der FMK ein Gebiet nahe jenen motorischen Regionen reserviert, die schließlich die Muskeln zum Bewegen bringt. Der frontomediane Kortex, so scheint es, kontrolliert alles, was "machbar" ist.