„Das Gesündeste ist ein regelmäßiges Auf und Ab“

12. November 2019

Psychische Belastung ist nicht immer schädlich, kurzfristig kann sie unseren Geist sogar beflügeln. Doch wo verläuft die Grenze zwischen zu viel und zu wenig Stress? „Die psychische und körperliche Gesundheit ist ein gutes Indiz dafür, ob es sich um ein gutes Maß handelt“, sagt Prof. Arno Villringer, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Im Gespräch erzählt er, wie Stress unser Verhalten beeinflusst, wie ungesund es ist, keinen Stress zu haben – und was wir alles noch nicht über dieses scheinbar alltägliche Gefühl wissen.

Herr Villringer, Stress gilt prinzipiell nicht nur als schlecht, sondern auch als antreibend. Wie sieht der optimale Stress aus?

Arno Villringer: Ja, Stress ist in bestimmter Menge und Form gut für uns. Dann macht er uns körperlich und psychisch widerstandsfähiger und stärkt unsere Abwehrkräfte. Wenn Stress etwa durch befriedigende Herausforderungen hervorgerufen wird – wunderbar! Aus Experimenten mit Mäusen weiß man etwa, dass Tiere mit einer herausfordernden Umgebung deutlich mehr Synapsen ausgebildet haben als jene mit einer monotonen. Kein Stress ist also genauso ungesund wie zuviel Stress. Denn ein Mangel an Herausforderungen kann zu Lethargie und Depressionen führen. Das zeigt sich in extremem Ausmaß etwa bei Menschen mit der sogenannten Addison-Krankheit, die das Stresshormon Cortisol nicht produzieren können. Die sind ständig müde und antriebslos. Ein Zuviel entsteht oft, wenn wir uns getrieben und als Opfer der Umstände sehen. Das zeigt sich häufig an dauerhaft zu hohem Blutdruck und Puls, Übergewicht oder auch Depressionen. Dauerbelastung kann außerdem dazu führen, dass bestimmte Netzwerke nicht mehr funktionieren, vor allem solche, die für die Körperwahrnehmung und langfristige Ziele zuständig sind.
Ein gutes Indiz für ein optimales Maß an Stress ist die psychische und körperliche Gesundheit. Die zeigt sich zum Beispiel an einer hohen Variabilität der Herzfrequenz und des Blutdrucks. Denn die steht dafür, dass man die gesamte Bandbreite an Emotionen erleben kann – und man nicht erstarrt. Das Gesündeste ist ein regelmäßiges Auf und Ab.

Stress scheint uns überall zu umgeben, vieles wirkt bereits bekannt. Was wissen wir noch nicht?

Wir wissen noch nicht, was die Unterschiede zwischen uns ausmacht. Also warum manche Menschen mit der objektiv gleichen Belastung besser umgehen können als andere. Stichwort Resilienz. Da ist aber noch vieles unverstanden, etwa welche Rolle hier genetische Faktoren, die frühe Kindheit, Missbrauchserfahrungen oder auch die Gesellschaft spielen. Welche körperlichen und psychischen Merkmale stecken dahinter und wie kann ich mit diesen umgehen, damit ich nicht ständig übermäßigen Stress empfinde? Plakativ gesagt: Denke ich bei Regen etwa „Mensch, schon wieder schlechtes Wetter“ oder „Ist doch gut für die Pflanzen“. Man kann den meisten Menschen nicht einfach sagen, „Entspann’ dich doch mal“. Das müssen sie lernen, ähnlich wie Klavierspielen. Unser Ziel ist es, für jeden den optimalen Umgang mit Stress zu finden. Denn der beeinflusst letztlich auch unser Entscheidungsverhalten.

Inwiefern?

Unter chronischem Stress neigen wir zu gewohnheitsmäßigem Verhalten, bei dem wir nicht auf unser langfristiges Wohlergehen, unsere Gesundheit oder auch Schönheit achten. Unter Stress verwenden wir all unsere Energie auf den „Feind“, also darauf, der Herausforderung zu begegnen. Da wollen wir möglichst wenige Ressourcen auf alles andere verwenden und das Gehirn möglichst nicht mit anderen Dingen belasten, also irgendwelchen zusätzlichen Entscheidungen. Wenn wir dann etwa irgendwo Chips sehen, essen wir die in dem Moment einfach, ohne darüber nachzudenken. Auf Dauer kann dieses unkontrollierte Verhalten dazu führen, dass wir an Adipositas, Diabetes oder Bluthochdruck erkranken, die wiederum zu Atherosklerose, also „Arterienverkalkung“, und schließlich zum Schlaganfall führen können. Auch der Schlaganfall selbst ist ja dann wieder mit massivem Stress, echter Todesangst, verbunden. Dadurch kann er wiederum nicht selten eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen, zusätzlich zu den eigentlichen körperlichen Folgen.

Was weiß man denn bisher darüber, was Menschen resistenter gegenüber Stress macht?

Das sind vor allem psychologische Faktoren. Also vor allem das Übersetzen von Erleben in aktives Handeln statt in Ertragen. Auf der körperlichen Ebene ist zum Beispiel entscheidend, wie schnell man unter plötzlichem Stress wieder in den Ausgangszustand zurückgelangt, wie schnell also Puls und Blutdruck wieder abfallen. Das gelingt etwa, wenn der Puls eine hohe Variabilität hat. Früher galten diese Schwankungen als beunruhigend. Heute weiß man, dass man dadurch besser abschalten kann. Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung haben zum Beispiel eine kaum variable Herzschlagfrequenz. Langfristig ist auch der besser dran, der in einer Akutsituation starke Stresssymptome zeigt als derjenige, der stets unterschwellig Anspannung erlebt, die aber nie rauslässt. Das kann letztlich ein Anzeichen für eine Depression sein. Dabei beeinflussen sich körperliche und psychologische Faktoren gegenseitig. Wenn ich es schaffe, meinen Puls herunter zu regulieren, sinkt auch meine psychische Anspannung – und umgekehrt.

Macht es dabei einen Unterschied, ob es sich um positiven oder negativen Stress handelt?

Es ist vor allem entscheidend, ob es vorübergehender oder dauerhafter Stress ist. Dabei ist negatives Erleben per se nichts schlechtes, solange es nicht ständig ist. Man weiß etwa von Menschenaffen, dass die Menschenaffenkinder besser mit Stress umgehen konnten, die für kurze Momente von ihren Eltern getrennt waren als die, die permanent von ihnen umgeben oder die auf Dauer von ihnen getrennt waren, also die beiden extremen Enden der Stressskala erlebt haben. Durch die kurzzeitigen Belastungen hatten sie ihr Stresserleben trainiert und konnten so in Zukunft mit herausfordernden Situationen besser umgehen.

Sind wir unseren Stress-Eigenschaften einfach ausgeliefert oder können wir die beeinflussen?

Die lassen sich in gewisser Weise trainieren. Gerade die Variabilität im Herzschlag lässt sich etwa durch Sport steigern. Außerdem gibt es psychologische Trainingsverfahren, in denen man lernen kann, mit belastenden Situationen umzugehen. Dazu gehören Emotions-Regulations-Techniken wie die sogenannte Reappraisel-Methode, bei der Situationen neu bewertet werden. Die Gereiztheit meines Chefs etwa hat womöglich gar nichts mit mir zutun, sondern mit seiner kranken Mutter. Oder auch das „Wegwischen“ von Strapazen, also die bewusste Entscheidung, sich jetzt nicht darüber den Kopf zu zerbrechen.

Das Interview führte Verena Müller, Pressereferentin am MPI CBS.

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