Hirn im Musikrausch
Wenn Kunst und Wissenschaft verschmelzen: Preisgekrönte Theaterperformance „Musicophilia“ durch MPI-Forscher begleitet
Leipziger Max-Planck-Hirnforscher arrangieren wissenschaftliches Rahmenprogramm während der Finisage der weltweit gefeierten Musiktheaterperformance „Musicophilia“, die die Wechselwirkungen von Musik und Gehirn mit allen Sinnen erfahrbar macht.
"C-Dur ist blau", ruft eine Protagonistin auf der Bühne als sie hinter einer weißen Gaze-Wand hervortritt. "Ich habe ein absolutes Gehör", ruft eine andere. Wieder ein anderer schweigt, bringt aber dann ein trällerndes "Guten Morgen" hervor. Wie sieht das aus, wenn mehrere Sinneseindrücke verschmelzen, Menschen die Höhe eines beliebigen Tons direkt bestimmen können oder zwar nicht mehr sprechen, dafür aber singen können?
Was schwer vorstellbar ist, macht die experimentelle Musiktheaterproduktion "Musicophilia" künstlerisch erlebbar. Diese nimmt das Publikum mit auf eine dramatisch-poetische Reise durch das menschliche Gehirn. Erkenntnisse aus der Neurologie werden durch unerwartete Perspektiven, Farben, Choreographien und Klänge erfahrbar gemacht. Die Grenzen zwischen äußerem und innerem Erleben von "Musik" verschwimmen in einem Kaleidoskop aus Licht, Bewegung und Klang.
Ausgangspunkt der Inszenierung ist der Bestseller "Musicophilia" des amerikanischen Neurologen Oliver Sacks, der episodenhaft von Menschen erzählt, die nach einer Hirnerkrankung ihre Musikalität verlieren oder gewinnen. Sacks ist davon überzeugt, dass die "Liebe zur Musik" etwas Universelles ist, etwas, das alle Menschen zu Eigen haben.
Dass Musik zutiefst menschlich ist und als eine der ältesten sozial-kognitiven Fähigkeiten eine grundlegende Rolle in der Evolution der menschlichen Kommunikation und des Gemeinschaftsgefühls spielt, wissen auch Arno Villringer, Daniela Sammler und Tom Fritz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Sie übernehmen die wissenschaftliche Begleitung für die Theaterproduktion und ergänzen nun die drei Vorstellungsabende mit Vorträgen aus ihrem Forschungsinteresse Musik und Gehirn.
Den Auftakt macht Daniela Sammler mit ihrem Vortrag "Hier spricht die Musik", in dem sie erläutert, wie ähnlich Sprache und Musik im Gehirn wirken. An eindrucksvollen Beispielen erläutert sie, wie für unser Gehirn die Grenzen zwischen Musik und Sprache, zwischen Singen und Sprechen ausgesprochen fließend sind. In der Pfeifsprache die auf der kanarischen Insel La Gomera immer noch in der Schule gelehrt wird, werden beispielsweise Nachrichten durch Pfiffe über mehrere Kilometer hinweg übermittelt.. "Bring' mir doch bitte ein Kilo Tomaten aus dem Laden mit", pfeift ein Kanare in einem von Sammlers Hörbeispielen. Auch in den Trommelsprachen Westafrikas, den "talking drums", verschmelzen musikalische und sprachliche Laute zu Botschaften über Feste und Trauerfeiern, die größere Distanzen überwinden können.
"Es ist unglaublich beeindruckend, wie diese teilweise sehr abstrakten Prozesse, die im Gehirn ablaufen während Musik und Sprache verarbeitet werden, in "Musicophilia"künstlerisch umgesetzt werden", so Sammler über die Theaterperformance selbst. Sprache und Musik – selbst sonst wesentliche Mittel der Kunst – würden hier zum Gegenstand selbst gemacht. "Phänomene wie das Verschmelzen von Hören mit Farbsehen, das sonst nur für einige sehr wenige erfahrbar ist, werden hier für viele Menschen plötzlich vorstellbar."
Nach seiner Premiere 2012 ging das Stück auf erfolgreiche Welttournee und gewann den internationalen Music Theatre Now Award 2016. Die Finisage ist nun gemeinsam mit einer Neuauflage seines (neuro-)wissenschaftlichen Begleitprogramms am 4./5./6. Februar 2016 im Theater Schwere Reiter in München zu sehen.