"Wir denken nie mit dem gleichen Gehirn wieder"

11. April 2016

Er ist einer der Pioniere des sogenannten Neurofeedbacks mit funktioneller Echtzeit-Magnetresonanztomographie, das es vor 15 Jahren erstmals ermöglichte, bestimmte Bereiche des Gehirns gezielt zu trainieren: Nikolaus Weiskopf, bisher Professor am UCL Institute of Neurology in London, seit Anfang April neuer Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und Leiter der Abteilung für Neurophysik.

Dieser Wechsel vom Vereinigten Königreich nach Deutschland, von der Themse an die Pleiße, bedeutet für ihn nicht nur nach 12 Jahren einen umgekehrten Kulturschock, sondern vor allem vollkommen neue Entfaltungsmöglichkeiten für die zwei Herzen, die in ihm schlagen – das des Physikers und das des Neurowissenschaftlers. Eigentlich liege ja sein Interesse sogar exakt in der Mitte, meint er lachend. In der Mitte zwischen der reinen Gier nach irgendeinem physikalischen Teilchen, dem man mit Hilfe eines Großgerätes nachjage, und der reinen Faszination für ein psychologisches Phänomen, das ungeachtet der benutzten physikalischen Methode gemessen würde. Als Suche nach physikalischen Techniken um Hirnphänomene zu entschlüsseln würde er diese Passion beschreiben.

Seine Vision ist es daher, den Zusammenhang zwischen der Struktur des Gehirns und seinen Funktionen im lebenden menschlichen Gehirn in derart kleinen Größenordnungen zu verstehen, wie sie bis heute noch nicht erfasst werden können und für die neue physikalische Methoden unabdingbar sind: Spiegeln sich beispielsweise zwischenmenschliche Verhaltensunterschiede in der Hirnanatomie wider? Unterscheidet sich also, zugespitzt gesagt, das Gehirn eines Angsthasen anatomisch von dem eines Draufgängers?

Ein Gespräch über unser Gehirn als reines Zusammenspiel physikalischer Prozesse, eine neue Ära der Hirnforschung und die Natur von Geistesblitzen.

Herr Weiskopf, kann unser Gehirn rein durch physikalische Prozesse erklärt werden?

Ja, da habe ich eine sehr materielle Sichtweise. Damit sage ich nicht, dass wir es heute schon erklären können. Die bisherigen Modelle sind einfach noch Welten davon entfernt, Gehirnfunktionen umfassend zu erklären. Ich denke aber, es beruht alles auf ein paar wenigen Naturgesetzen der Physik, von denen wir den Rest ableiten können.

Sind demnach unser gesamtes Wesen, unser Verhalten, unsere Emotionen, unsere Gedanken nicht mehr als ein Zusammenspiel physikalischer Prozesse?

Ja, es ist alles Substrat, das zusammenarbeitet und in dem jeder Gedanke physikalisch verankert ist. Wobei natürlich nicht alles durch schlichte Berechnung beliebig vorhersagbar ist. Nicht etwa wegen ungenauer Modelle oder Techniken, sondern weil es prinzipiell nicht möglich ist. Denn die neurobiologischen Prozesse und die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt sind nicht linear, und zu viele Variablen spielen hinein. Es lässt sich also zwar eine gewisse Varianz physikalisch erklären und berechnen. Nicht jedoch der Gesamtverlauf. Gut lässt sich das mit der Vorhersage des Wetters vergleichen. Obwohl es komplett physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, hat man bisher vergeblich versucht, seinen genauen Verlauf langfristig zu berechnen, da es nicht-lineare Mechanismen beinhaltet. Winzige Ungenauigkeiten können so schnell den Gesamtverlauf ändern.

Obwohl also aus Ihrer Sicht alles eine Frage der Physik ist, werden wir selbst in einigen Jahrzehnten mit den besten neurophysikalischen Techniken unsere Gedanken nicht vorhersagen können?

(lacht) Nein, ich denke nicht. Für so komplexe Prozesse wie Meinungen oder Pläne wird es weiterhin hochspekulativ sein, weil eben zuviele nicht-lineare, auch rein zufällige Komponenten daran beteiligt sind.

Im Kleinen lassen sich jedoch auch heute schon bestimmte Verhaltensweisen vorhersagen. In Experimenten, in denen eine Person ihren Finger zu einem beliebigen Zeitpunkt bewegen sollte, konnte bereits vor der eigentlichen Bewegung durch einen Blick ins Gehirn mittels EEG gesehen werden, wann sie ihn genau bewegt.

Und wir können sogar Dinge ablesen, die wir zwar selbst erlebt haben, es aber nicht wissen. Probanden wurden beispielsweise für den Bruchteil einer Sekunde Quer- oder Längsbalken gezeigt, die dann sofort durch eine Schablone in der jeweils anderen Ausrichtung zu einem Gitternetz ergänzt wurden. Wegen dieser Maskierung konnten sie dann nicht sagen, ob ursprünglich Quer- oder Längsbalken gezeigt worden sind. Allerdings konnte die Ausrichtung aus dem Sehzentrum ihres Großhirns ausgelesen werden. Es hatte die physikalischen Informationen gespeichert, die jedoch nicht ins Bewusstsein gelangt waren.

Wir können also sogar das Unterbewusstsein mit Mitteln der modernen Technik messen?

Ja, prinzipiell schon. Das Gehirn ist ein ziemlich smarter Computer mit einer unglaublichen Rechenleistung. Es funktioniert dabei ebenfalls nach Algorithmen, nach denen es Probleme verarbeitet, die Umwelt vorhersagt, Handlungen ausführt. Das meiste dieser Rechenleistung läuft im Hintergrund ab und ist für das Bewusstsein uninteressant oder wird sogar aktiv biologisch unterdrückt. Nur die relevanten Sachen gelangen in unser Bewusstsein. Physikalisch sind manche dieser „uninteressanten“ Dinge schon heute messbar. Um das Substrat „Gehirn“ jedoch noch genauer zu beschreiben, brauchen wir bessere neurophysikalische Modelle und Messinstrumente.

Als neuer Leiter der Abteilung Neurophysik und neuer Direktor des MPI CBS ergeben sich dafür ja für Sie ganz neue Möglichkeiten. Welchen bisher unbeantworteten Fragen wollen Sie hier an unserem Institut nachgehen?

Meine Vision ist es, den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion genauer zu verstehen. Und das im Bereich von Mikrostrukturen: Hängen die anatomisch voneinander abgrenzbaren Bereiche wie sogenannte senkrecht durchs Gehirn verlaufende Kolumnen oder voneinander abtrennbare Schichten des Großhirns tatsächlich auch direkt mit funktionell getrennten Aufgaben zusammen? Wir wissen beispielsweise schon heute, dass eine Kolumne die Informationen des rechten Auges verarbeitet und eine andere die des linken. Wissen wir sowas irgendwann für verschiedene Hirnstrukturen kann ich beispielsweise Funktionen wie binokulares Sehen oder Motorik besser verstehen und gezielter trainieren.

Außerdem kann es mir dabei helfen herauszufinden, ob die zwischenmenschlichen Unterschiede genetisch oder durch die Umwelt bedingt sind. Und ich kann vielleicht besonders frühzeitig erkennen, wenn sich verschiedene Hirnstrukturen durch Krankheiten wie Alzheimer verändern.

Dazu brauchen wir natürlich noch wesentlich feinere neurowissenschaftliche Methoden. Meine zweite große Vision daher: Diese weiter voranbringen. Vor allem die Magnetresonanztomographie.

Der Magnetresonanztomograph Connectom, der als einer von weltweit drei Stück seiner Art in diesem Herbst an unser Institut kommt, wird eine neue Ära der Hirnforschung einleiten. Was kann er, was andere Tomographen nicht können?

Plakativ gesagt könnte er fast alle bisherigen MRT-Studien der Hirnforschung verfeinern und ihre Zuverlässigkeit und damit Aussagekraft erhöhen. Also zum einen alle Studien, die die zwischenmenschlichen Unterschiede erklären wollen, die vermutlich auf Ebene der Mikrostrukturen liegen: Warum hat ein Mensch mehr Angst als ein anderer? Warum kann ein Mensch sich Dinge besser merken, als der andere? Zum anderen alle Fragen, die die Plastizität untersuchen. Also was verändert sich zum Beispiel durch Training wie Meditation.

Vor allem aber kann er uns mit seiner hochaufgelösten Diffusionsbildgebung, wie der Name andeutet, Aussagen darüber liefern, wie das Gehirn im Inneren verdrahtet ist. Wie also vor allem die großen Nervenfaserbündel, die Datenautobahnen, im Gehirn verlaufen, die die einzelnen Hirnareale miteinander verbinden. Das ist vieles bisher sehr vage, aber das eigentlich entscheidende um den Informationstransport im Gehirn zu verstehen.

Wie macht der Connectom das möglich?

Er kann mit 300 Millitesla pro Meter  zehnfach höhere Magnetfeldgradienten erzeugen als bisherige Standard-Tomographen. Dieser Gradient ist notwendig, um ein räumlich veränderliches Magnetfeld zu erzeugen und damit die Bewegungen der Wassermoleküle im Gehirn zu erfassen. Durch die stärkeren Gradienten werden nicht nur die Messungen deutlich verkürzt, sondern vor allem die Bildqualität erhöht. Denn zwischen Anregung und dem Auslesen des MRT-Signals sind bisher viele Details verloren gegangen, da es schnell von Störsignalen überdeckt wurde  und das Bild häufig so unscharf war, das daraus keine Aussagen mehr getroffen werden konnten.

Nun bekommen wir eine drei- bis viermal höhere Auflösung und damit bisher einmalig genaue Aufnahmen über die Diffusionsbewegungen der Wassermoleküle im Gehirn. Dadurch können wir im Mikrometerbereich erkennen, an welcher Stelle sich die Diffusionsrichtung entlang von winzigen Barrieren, den Nervenzellen und -fasern, ändert und daraus auf die Verdrahtung schließen. Doch nicht nur der Connectom-Tomograph allein leitet eine Art neue Ära der Hirnscans ein…

Was meinen Sie genau?

...sondern auch die dadurch hier am Institut weltweit einmalige Kombination mehrerer Tomographen, die jeweils auf unterschiedliche Mikrostrukturen spezialisiert sind. Dadurch ergibt sich erstmals die Möglichkeit, ein wirklich ganzheitliches Bild des Gehirns zu entwickeln. Insbesondere in Kombination mit dem 7-Tesla-MRT, der durch seine sehr hohe statische Magnetfeldstärke ein sehr starkes Signal im Verhältnis zum Hintergrundrauschen erzeugt und hohe räumliche Auflösungen erreicht. Dadurch kann er beispielsweise extrem genau erfassen kann, wie stark die Nervenfasern von einer Myelinschicht umgeben sind. Je dicker die Schicht, desto schneller werden Signale weitergeleitet. Außerdem könnten daran beispielsweise neurodegenerative Erkrankungen sehr früh erkannt werden. Nur die vielen verschiedenen Bilder werden es möglich machen, die Mikrostruktur des Hirns zu erfassen.

Bei all diesen komplexen Zusammenhängen: Woraus schöpfen Sie während Ihrer Arbeit neue Ideen?

In der Diskussion mit anderen Leuten. Egal ob im formalen Meeting oder im locker-entspannten Gespräch. Ansonsten kommen mir die besten Geistesblitze beim Joggen.

Und diese Geistesblitze, sind das dann auch wieder rein physikalische Phänomene, die in Ihrem Gehirn schon vorgegeben sind?

(lacht) Natürlich sind die irgendwie durch das Substrat vorgegeben. Man bekommt beispielsweise im Gespräch mit Anderen neue Informationen, die das Gehirn verarbeitet und sich dadurch auch weiter entwickelt. Das heißt, wir denken nie mit dem gleichen Gehirn wieder. Wenn man einmal etwas gedacht hat, hat es sich schon wieder verändert. Und daraus entstehen dann neue Ideen.

Auf genau diese freuen wir uns. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Verena Müller.

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