Die Gedanken werden lesbar – Zeichen und Muster in Hirnbildern

„Kein Mensch kann sie wissen“, heißt es im Volkslied über die Gedanken. Eine frohe Gewissheit, verspricht sie doch einen letzten Rest Freiheit, der uns nicht zu nehmen ist. Mit den Mitteln der modernen Hirnforschung rückt ernst zu nehmendes Gedankenlesen jetzt in den Bereich des Möglichen. Vorerst müsse sich aber niemand sorgen, ohne sein Wissen ausgehorcht zu werden, beruhigt John Dylan Haynes, Leiter der Arbeitsgruppe „Aufmerksamkeit und Bewusstsein“.

Denn damit die Wissenschaftler in den Gedanken einer Testperson lesen können, muss sich diese erst in den Computertomografen begeben, eine große dröhnende Maschine, in der sie völlig ruhig liegen müssen. Nur dann gelingt es, mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) ihre neuronale Aktivität sichtbar zu machen. „Sieht man sich die aktiven Regionen auf den fMRT-Bilder dann genau an, werden darin charakteristische Muster erkennbar, an denen sich Gedanken voneinander unterscheiden lassen.“, sagt der Forscher. Jeder Gedanke hinterlässt auf diese Weise seine eigene neuronale Signatur, die so unverwechselbar ist wie ein Fingerabdruck. Wer die Muster zu lesen versteht, kann aus ihnen ableiten, was eine Person gerade denkt. Das „Lesen“ übernimmt dabei ein Computerprogramm, das mit einem Algorithmus zum Mustererkennen arbeitet. „Das funktioniert ähnlich wie die Bilderkennungssoftware, die Fingerabdrücke in einer Datenbank abgleicht“, erklärt Haynes. Weniger komplexe Gehirninhalte, wie etwa verschiedene Sinneseindrücke, lassen sich bereits seit längerer Zeit sehr zuverlässig an der Hirnaktivität erkennen. Seit einigen Jahren werden sogar Wettbewerbe veranstaltet, in denen sich Forscher darin messen, allein aus den Daten des Hirnscanners zu abzulesen, welche Filme oder Bilder sich eine Person gerade ansieht. Haynes und seine Mitarbeiter haben diese Bestrebungen noch einen Schritt weiter getrieben. In verschiedenen Versuchsreihen gelang es ihnen, auch abstrakte Gedankeninhalte wie Vorsätze und Absichten anhand der Hirnaktivität voneinander zu unterscheiden. Testpersonen sollten dabei etwa im Voraus die Wahl treffen, ob sie zwei Zahlen miteinander addieren oder subtrahieren würden. Was sich während der Entscheidung im Hirn abspielte, überwachten die Forscher mittels fMRT. Die Zahlen selbst wurden erst einige Zeit später auf einem Bildschirm eingeblendet. „So konnten wir sicherstellen, nur die neuronale Aktivität des Entscheidungsvorganges, nicht die des Rechnens zu messen“, erklärt Haynes. Mit den gewonnenen Daten konnten die Forscher in 70 Prozent der Fälle vorhersagen, für welche Rechenoperation sich die Probanden entschieden hatten.

Das wissenschaftliche Gedankenlesen ist dabei kein Selbstzweck: „Durch solche Experimente lernen wir viel darüber, wie und wo bestimmte Gedanken im Hirn eingespeichert werden“, sagt Haynes, „ und das gibt Aufschluss über Grundmechanismen unseres Bewusstseins.“ Schon bald aber könnte es auch praktische Anwendungen geben, etwa im klinischen Bereich. Bei Komapatienten ließe sich beispielsweise prüfen, ob noch geordnete kognitive Aktivität vorliegt. Ebenso könnte die Technik Menschen mit schweren Lähmungen helfen, wieder zu kommunizieren oder sogar Prothesen, Rollstühle und Computer mit ihren Gedanken zu steuern.

Noch allerdings sind die Messmethoden nur für relativ einfach zu unterscheidende Gedankeninhalte geeignet. „Um graduellere Unterschiede zwischen Gedanken zu erkennen, müsste die Auflösung der Computerbilder noch viel feiner werden“, erklärt Haynes. Hinzu komme, dass sich das neuronale Muster eines Gedankens von Person zu Person sehr häufig unterscheidet, so dass der Computer bislang auf jeden Menschen erst einzeln „trainiert“ werden muss, bevor er in der Lage ist, die Gedankenmuster zu lesen. Trotz der technischen Beschränkungen sind schon heute Einsatzmöglichkeiten für das Gedankenlesen denkbar, die Ängste wecken könnten „Bei einigen potentiellen Anwendungen, etwa dem Einsatz für den Bau von Lügendetektoren oder dem so genannten „Neuromarketing“, stellen sich ethische Fragen“, sagt der Hirnforscher. „Es muss diskutiert werden, was wir umsetzen wollen und was nicht.“ Mit der Erforschung des Gedankenlesens solle deshalb eine intensive Debatte einhergehen, in der möglicher Nutzen einer Anwendung und das Recht auf „mentale Privatsphäre“ jeweils gegeneinander abzuwägen seien. Mit der Gedankenlesetechnik widmet sich die Arbeitsgruppe um Haynes außerdem einem der meistdiskutierten Themen zwischen Hirnforschung und Philosophie - der Frage nach der Existenz des freien Willens. Um diese entbrannte in den frühen 80er Jahren eine hitzige Debatte, als der Neurophysiologe Benjamin Libet die Ergebnisse eines im Grunde recht einfachen Experimentes veröffentlichte. Der amerikanische Forscher hatte sich mit dem Bereitschaftspotential beschäftigt, einer geringen elektrischen Spannung, die sich kurze Zeit vor einer Bewegung in der Großhirnrinde aufbaut und deren Ausführung vorbereitet. Libet interessierte sich für den zeitlichen Abstand zwischen der Entscheidung, sich zu bewegen, und dem Aufbau des Bereitschaftspotentials. Im Experiment bat er seine Probanden, zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl das Handgelenk zu knicken, während er die Hirnströme mit einem EEG maß. Zusätzlich sollten die Testpersonen eine Art Stoppuhr im Auge zu behalten, um den Augenblick ihrer Entscheidung später möglichst genau angeben zu können.
Das Ergebnis erstaunte Libet, ebenso wie viele Forscher bis heute: Im Hirn der Probanden baute sich das Bereitschaftspotential bereits auf, bevor sie selbst den Willen zur Bewegung verspürten. Selbst wenn man eine gewisse Verzögerung beim Lesen der Stoppuhr annahm, blieb es dabei - der bewusste Willensakt ereignete sich im Durchschnitt erst drei Zehntelsekunden, nachdem die Handlungsvorbereitungen im Hirn angelaufen waren. Für viele Hirnforscher ließ das nur einen Schluss zu: Die grauen Zellen entschieden offenbar an uns vorbei. Die Freiheit des Willens hätte sich damit als Illusion erwiesen. Für Philosophie und Ethik war dies eine erschütternde Vorstellung, denn ohne persönliche Freiheit wäre unseren Vorstellungen von Verantwortung, Moral und Gerechtigkeit die Grundlage entzogen. Libets Versuchsaufbau wurde später immer wieder heftig kritisiert. Die fraglichen 0,3 Sekunden wurden häufig mit einer Verzerrung durch den Versuchsaufbau erklärt.
Grund genug für Haynes und seine Mitarbeiter, das Experiment Libets mit moderneren Methoden zu überprüfen. Versuchspersonen im Tomographen gaben die Wissenschaftler dazu in jede Hand einen Knopf und baten sie, sich zu entscheiden, den linken oder den rechten zu drücken. Die Forscher versuchten auf Basis der Hirnaktivität eine Prognose über ihre Wahl abzugeben. Wie in den Experimenten Libets sollten die Probanden zugleich versuchen, sich den gefühlten Zeitpunkt ihrer Entscheidung möglichst genau zu merken. Dazu schauten sie auf einen Bildschirm, auf dem sehr schnell verschiedene Buchstaben in zufälliger Abfolge gezeigt wurden. Den Buchstaben, den sie im Moment ihrer Entscheidung gerade vor sich sahen teilten sie später mit.
Das Experiment bestätigte Libets Ergebnis mit verblüffender Deutlichkeit - bis zu zehn Sekunden bevor die Probanden ihren Entschluss getroffen zu haben glaubten, ließ dieser sich bereits vorhersagen. Offenbar fielen die Entscheidungen unbewusst und drangen erst nachträglich ins Bewusstsein vor. Das bedeute aber noch nicht, dass die Vorstellung der Willensfreiheit damit gänzlich aufgegeben werden müsse, sagt Haynes. In einem Folgeexperiment wollen der Forscher und sein Team deshalb demnächst die Frage klären, ob sich Menschen noch gegen die Handlung entscheiden können, die ihr Hirn eingeleitet hat. Wäre dies der Fall, bliebe zumindest die Entscheidung etwas nicht zu tun in unserer Hand.

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