Das Teamwork-Prinzip

Unser tägliches Leben besteht aus einer Abfolge von kleinen und größeren sozialen Interaktionen, in denen wir uns immer wieder intuitiv auf andere Personen einstellen. Ob wir als Fußgänger entgegenkommenden Passanten ausweichen, jemandem die Hand geben, zu zweit ein Sofa die Treppe hochtragen, tanzen oder Basketball spielen: Jede unserer Handlungen muss dabei mit denen der anderen Menschen abgestimmt sein. Aber woher wissen wir immer so schnell, was diese tun werden?

Für solche Basisprozesse des gemeinsamen Handelns interessiert sich Wolfgang Prinz. Der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften erforscht soziales Verhalten auf der Mikroebene. Denn hinter dem täglichen Miteinander steckt viel mehr kognitive Arbeit, als wir bemerken. "Genau besehen ist es mehr als erstaunlich, wie wort- und mühelos die Abstimmung im Normalfall gelingt", sagt der Forscher. " - und das in Sekundenbruchteilen!" Dafür genüge es nicht, feine Antennen und eine schnelle Reaktionsfähigkeit zu haben: "Menschen können nur deshalb so reibungslos mit anderen zusammen agieren, weil sie meistens schon im Voraus wissen, was der andere tun wird."

Hinter dieser Fähigkeit stecken zum großen Teil unbewusst ablaufende Mechanismen, die erst seit einigen Jahren erforscht werden. Denn lange ging man in der Psychologie von einem linearen Schema aus: "Als klassisch galt die Abfolge Perzeption – Kognition – Aktion", erzählt Prinz. Handlungen, die wir bei anderen wahrnehmen, müssten demnach zunächst einen komplexen Denkprozess durchlaufen, um verstanden zu werden. Daraufhin müssten wir zwischen den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten abwägen und die entsprechenden Bewegungen einleiten, um schließlich zu reagieren. "Für viele der täglichen blitzschnellen Interaktionen wäre dieser Prozess aber schlicht zu langsam", sagt Prinz. Er kam früh zu der Überzeugung, dass es eine Abkürzung geben müsse, die von der Wahrnehmung einer Handlung bei anderen direkt zur eigenen Aktion führt. Schon Anfang der 1990er-Jahre formulierte der Wissenschaftler die Theorie des "Common Coding", nach der Wahrnehmen und Handeln zumindest teilweise durch gemeinsame kognitive und neuronale Ressourcen verbunden seien. Anfangs stand er mit dieser Ansicht recht allein da. Doch das änderte sich kurz darauf schlagartig, als bei Makaken-Affen Hirnzellen gefunden wurden, die genau das taten, was Prinz theoretisch vorausgesagt hatte: Die sogenannten Spiegelneuronen wurden bei den Primaten sowohl aktiv, während sie selbst nach einem Stück Obst griffen, als auch dann, wenn sie nur beobachteten, wie ein Artgenosse dieselbe Handlung ausführte. Beim Menschen ist man bis jetzt noch auf der Suche nach den Neuronen mit der Doppelfunktion. Doch dass es sie gibt, gilt als sicher. Auch beim Menschen kann das bloße Wahrnehmen einer Handlung dieselben motorischen Areale aktivieren, die auch für ihre Ausführung zuständig sind.

Die Folgen lassen sich im Alltag beobachten: Jeder hat wohl schon einmal erlebt, wie ansteckend etwa Gähnen oder Lachen wirken können. Auch wenn wir in einem Gespräch die Sitzhaltung und Bewegungen eines Gegenübers betrachten, imitieren wir beides oft unwillkürlich. Das Zentrum des menschlichen Spiegelsystems wird im prämotorischen Kortex vermutet. Dieses Areal hat sich inzwischen in vielen Studien als Dreh- und Angelpunkt zwischen Sinneswahrnehmung und Handlungssteuerung erwiesen. Als direkter Nachbar des motorischen Kortex, des Bewegungszentrums unseres Gehirns, verbindet er den audiovisuellen Input mit der Planung und Ausführung unserer Bewegungen. Deswegen wird ihm eine Schlüsselfunktion zugeschrieben für unseren Umgang mit anderen Menschen. Heute nimmt man an, dass im prämotorischen Kortex Simulationsprozesse stattfinden, die uns helfen, das Handeln anderer zu verstehen. "Das Verhalten der anderen wird dabei in Handlungsziele übersetzt", erklärt Wolfgang Prinz. „Indem man fremdes Tun selbst innerlich durchspielt, wird es schneller verstanden als durch logisches Verstehen. Aus der inneren Simulation lässt sich dann ableiten, was eine Person wahrscheinlich als Nächstes tun wird.“


Wie solche Vorgänge unser Handeln unmerklich beeinflussen, wenn wir uns mit anderen eine Aufgabe teilen, untersuchte erstmals Natalie Sebanz, eine ehemalige Doktorandin von Prinz. Heute erforscht sie das gemeinsame Handeln in einer eigenen Gruppe an der niederländischen Universität Nijmegen. Sie entwarf dafür ein Reiz-Reaktionsexperiment, das sie mal von einer Person allein und mal von zwei Personen zusammen ausführen ließ. Dabei wurden den Probanden Bilder von einer Hand präsentiert, an deren Zeigefinger entweder ein roter oder ein grüner Ring steckte. Je nachdem, welche Farbe erschien, sollten die Probanden so schnell wie möglich entweder einen Knopf zu ihrer Linken oder zur Rechten drücken. Dabei war eine Schwierigkeit eingebaut: Der Finger trug nicht nur den jeweiligen Ring, sondern zeigte auch nach links oder rechts. "Eigentlich ist die Zeigerichtung des Fingers für die Probanden irrelevant, sie sollen ja nur auf den Farbreiz reagieren", sagt die Forscherin. Doch räumliche Information lässt sich nicht ausblenden – das ist als der Simon-Effekt bekannt. Wies der Finger auf dem Bildschirm also nach links, obwohl rechts der Knopf zu drücken war, verzögerte das die Reaktion bei den Probanden. "Dieser Effekt war deshalb für soziale Prozesse interessant", so Natalie Sebanz, "weil er nur dann auftritt, wenn eine Person für beide Knöpfe zuständig ist." Bedient der Proband dagegen nur einen der beiden Knöpfe, verschwindet der Simon-Effekt.

In Sebanz’ Experiment zeigte sich nun, dass der Effekt sofort zurückkehrt, sobald man dem Probanden einen Partner an die Seite setzt. „Wenn der Farbreiz mir sagt, dass ich dran bin, aber der eingeblendete Finger auf die Person neben mir zeigt, dauert es wieder einen Moment länger, bis ich reagiere“, erklärt Sebanz. Zwei Personen zusammen handelten im Experiment so wie eine Person, die zwei Hände zu koordinieren hatte. Das liegt daran, dass beide Teilnehmer nicht nur ihre eigene Aufgabe im Kopf hatten, sondern auch den Teil, für den der andere zuständig war. Korepräsentation heißt dieses Phänomen: Selbst wenn es sich um eine Aufgabe handelt, bei der es eher hinderlich wirkt, behält man die andere Person auf dem Schirm – und zwar immer. Auch als die Probanden nicht an der Reihe waren, simulierte ihr Hirn die Handlung des anderen mit. Weil bereits das Beobachten oder Vorstellen der Handlung des anderen die eigenen motorischen Areale für diese Handlung aktiviert, entsteht ein Impuls, die Handlung selbst auszuführen. Damit wir nicht sofort alles imitieren, was wir bei anderen beobachten, muss dieser Handlungsimpuls unterdrückt werden. Die erhöhte Hirnaktivität, die dafür nötig ist, ließ sich im EEG messen.

Für das Leben in sozialen Gruppen könnte die Korepräsentation so grundlegend gewesen sein, dass sie sich im Verlauf der Evolution automatisierte und fest ins Gehirn des Menschen einschrieb, vermutet die Forscherin. "Mit anderen zu kooperieren liegt offenbar in unserer Natur." Die Entdeckung dieser sozialen Seite unseres Gehirns zog eine Vielzahl Experimente nach sich. Unter anderem untersuchen die Forscher am MPI, unter welchen Bedingungen Korepräsentation auftritt und ob diese stärker ausfällt, wenn man die andere Person kennt. Auch der Frage, ab welchem Zeitpunkt in der frühkindlichen Entwicklung die Vorstellungen vom Handeln anderer Personen auftreten, wird in einer Forschungsgruppe nachgegangen.

Diese Arbeiten zählen zwar zur Grundlagenforschung. Doch wenn die Mechanismen des gemeinsamen Handelns immer besser verstanden werden, wäre das auch für viele praktische Felder interessant. Etwa für die kognitive Robotik – hier arbeiten Forscher seit einiger Zeit daran, künstliche soziale Intelligenz zu programmieren, um irgendwann einmal Industrierobotern Soft Skills und Menschenkenntnis zu verleihen. Auch die Musik- und die Bewegungspädagogik würden profitieren. Und schließlich könnten die neuen Erkenntnisse ein besseres Verständnis ermöglichen für Störungen des Einfühlungsvermögens, die etwa bei Autismus oder bestimmten Hirnverletzungen auftreten, und damit in Zukunft zu besseren Therapien führen.

Zur Redakteursansicht