Warum die Musik bleibt, wenn alles andere geht

Anatomische Gründe für Erhalt des Musikgedächtnisses bei Alzheimer-Patienten aufgedeckt

4. Juni 2015

Im alltäglichen Umgang mit Alzheimer-Patienten wurde immer wieder festgestellt, dass ihr Langzeit-Musikgedächtnis oftmals erstaunlich lange intakt blieb und überraschend funktionsfähig war im Vergleich zu anderen Teilen des Gedächtnisses. Die Ursachen und Wirkungszusammenhänge des Phänomens lagen jedoch bisher im Dunkeln. Wissenschaftler des MPI Leipzig, der Universität Amsterdam und des INSERM Caen haben mit einer neuen Studie nun erstmals genau das Musikgedächtnis lokalisiert und tatsächlich den weitgehenden Erhalt dieses Gehirnareals während der sonst fortschreitenden Degenerierung des Gehirns bei Alzheimer-Patienten wissenschaftlich nachgewiesen.

Überraschenderweise bleibt bei diesem Prozess häufig das langzeitliche Musikgedächtnis weitgehend verschont. In der Praxis nutzen Betreuer und Therapeuten diesen Umstand bereits und aktivieren ihre Patienten mit Musik. Mit Hilfe der Musik gelingt es den Betroffenen oft an Gedächtnisinhalte wieder anzuknüpfen, Emotionen und Eindrücke zu beleben. Manchmal können sie Liedzeilen von bekannten Songs mitsingen, obwohl ihnen das Sprechen sonst nahezu unmöglich geworden ist.

Was aus Erfahrung bekannt ist und in der Praxis bereits genutzt wird, ist wissenschaftlich jedoch bisher weitgehend unerforscht. „Meines Wissens ist dies die erste neurowissenschaftliche Studie, die sich mit dem Phänomen des erhaltenen Musikgedächtnisses bei Alzheimer-Patienten befasst und eine mögliche anatomische Erklärung für den Erhalt des Musikgedächtnisses liefert“, erklärt Jörn-Henrik Jacobsen, Wissenschaftler am Leipziger Max-Planck-Institut und der Universität Amsterdam. Den Anstoß zu der Studie gab Professor Robert Turner, mittlerweile Direktor emeritus der Abteilung Neurophysik.

Um dem Geheimnis näher zu kommen haben die Forscher mit Hilfe von funktionellen Ultrahochfeld-Magnetresonanzmessungen (7 Tesla fMRT) zunächst die Hirnareale für das Langzeit-Musikgedächtnis im Gehirn lokalisiert. Hierfür stellten sie zuerst mit den Ergebnissen aus einem Verhaltensexperiment mit 100 Personen ein Set von Song-Stimuli aus den top 10-Songs der Deutschen media control charts Liste 1977-2007, Kinderliedern, Oldies und bekannten Klassik-Stücken zusammen, um zu gewährleisten, wirklich lang bekannte Melodien für die Studienteilnehmer zu identifizieren. „Musikerfahrung und damit auch das persönliche Musikgedächtnis sind ja weitgehend sozial und kulturell geprägt, somit war es wichtig die Auswahl nicht subjektiv zu treffen, sondern eine Gruppe entscheiden zu lassen“, erklärt Jacobsen. Die ausgewählten Songausschnitte mit hohem Bekanntheitsgrad wurden mit völlig unbekannten aber charakteristisch ähnlichen Musikstücken zu Dreiergruppen kombiniert.

Bevor nun die Studienteilnehmer mit den Höraufgaben im MRT konfrontiert wurden, bekamen sie die Hälfte der unbekannten Melodien, jeweils eine aus jeder Dreiergruppe, vorgespielt. Während der MRT-Messungen hörten die Probanden dann also immer Musik-Dreiergruppen, die aus einem lange bekannten Song, aus einem kurz zuvor schon einmal gehörten Lied und einer ihnen völlig unbekannten Melodie bestanden. Nach den Messungen wurden die Daten mit Hilfe von statistischen Mustererkennungsverfahren ausgewertet und die Wissenschaftler konnten Gehirnareale entschlüsseln, in denen es möglich war zu unterscheiden, welche der drei Kategorien (lang-, kurz-, nichtbekannt) gerade vom Studienteilnehmer gehört wurde. Für die Langzeit-Musik-Erinnerung konnten die Forscher so ein Gebiet im sogenannten supplementär-motorischen Cortex identifizieren. (Abb.)

„Unsere Studie liefert somit nicht nur eine geschickte und zeitgemäße Methodik um neurowissenschaftlich das Musikgedächtnis zu erfassen“, erklärt Jacobsen. „Sie verweist auch darauf, dass nicht wie bisher vermutet die Temporallappen essentiell sind für die Musikerinnerung, sondern vielmehr Bereiche, die mit komplexen motorischen Abläufen assoziiert sind.

In einem zweiten Schritt verglichen die Wissenschaftler die für die musikalische Erinnerung relevanten Regionen aus der gesunden Gruppe mit anatomischen Befunden aus einer Studie mit Alzheimer-Patienten in Bezug auf drei wichtige Merkmale für diese Erkrankung: den kortikalen Schwund, den verminderten Stoffwechsel (Hypometabolismus) und die Amyloidablagerung (eine Proteinablagerung) in betroffenen Gehirnregionen. Wie vermutet, wies bei den Alzheimerpatienten das entsprechende Gehirnareal, das zuvor als Langzeit-Musikgedächnis-Gebiet lokalisiert worden war, geringere Werte bei den Biomarkern im Vergleich zum übrigen Gehirn auf: Der Umfang der Amyloidablagerungen erwies sich als durchschnittlich ausgeprägt im Verhältnis zu den Vergleichsgebieten, führte aber nicht zu den sonst damit einhergehenden weiteren Entwicklungsstufen der Krankheit. Zusammengefasst heißt das also, dass die Gehirnregionen des Langzeit-Musikgedächtnisses zu genau den Arealen gehören, welche bei Alzheimerpatienten häufig am geringsten von kortikalem Schwund und den typischen Stoffwechselstörungen betroffen sind.

Die Ergebnisse der Untersuchungen liefern damit eine mögliche Erklärung dafür, dass das Langzeit-Musikgedächtnis bei Alzheimer-Patienten besser erhalten bleibt – im Vergleich zum Kurzzeitgedächtnis, dem autobiografischen Langzeitgedächtnis oder Sprache und weshalb es auch in späteren Stadien der Krankheit noch weitestgehend funktioniert. „Außerdem unterstützt dieser Befund eine Vermutung, die bereits im Zusammenhang mit anderen Studien angestellt wurde. Hier hatte man eine erhöhte Netzwerkverbindung zwischen dem vorderen Gyrus cinguli und anderen Knotenpunkten bei Alzheimerpatienten beobachtet. Das legt nahe, dass diesem Gehirnbereich überdies noch spezielle kompensatorische Funktionen bei fortschreitender Krankheit zukommen“, erklärt Jacobsen die Bedeutung der Ergebnisse.

Mit ihren Untersuchungen wollen die Wissenschaftler der Forschung zu den bisher wenig verstandenen Wirkmechanismen der langerhaltenen Musikerinnerung bei Alzheimerpatienten neue Impulse geben. „Denn erst ein fundiertes Verständnis der komplexen Zusammenhänge“, meint Wissenschaftler Jacobsen, „könnte in Zukunft eine wirkliche therapeutische Nutzung von Musik bei der Patientenbetreuung ermöglichen.“

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