Taube Kinder lernen Wörter schneller als hörende
Kinder mit künstlicher Hörschnecke, sogenannten Cochlea-Implantaten, beginnen zwar später damit, Wörter zu lernen, sind dann aber darin umso schneller.
In Deutschland kommen jedes Jahr nach Schätzungen des Robert Koch-Institutes bis zu 2000 Kinder schwerhörig zur Welt. Bei einigen von ihnen kann eine künstliche Hörschnecke, ein Cochlea-Implantat, Abhilfe schaffen. Bisher war jedoch unklar, welche Prozesse bei den betroffenen Kindern beim Sprachlernen ablaufen, wenn sie damit später als ihre normalhörenden Altersgenossen beginnen - und warum deren Erfolge, ein normales Sprachniveau zu erreichen, recht unterschiedlich ausfallen. Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und des Universitätsklinikums Dresden hat nun herausgefunden, dass taube Kinder mit Cochlea-Implantat Wörter sogar schneller lernen als normalhörende. Diese Erkenntnis kann helfen, die Suche nach den Ursachen für die unterschiedlichen Spracherfolge weiter zu verfeinern.
Seit vielen Jahrzehnten tüfteln Forscher an einem perfekten Ersatz für das Innenohr, das bei tauben Kindern mit sensorischer Hörstörung beschädigt oder fehlgebildet ist. Diese sogenannten Cochlea-Implantate nehmen den Schall auf, wandeln ihn in elektrische Reize um und geben diese Impulse direkt an den Hörnerv weiter. Dadurch bekommen die betroffenen Kinder die Möglichkeit, Anschluss an die Welt voller Laute und Geräusche zu finden. Meist werden ihnen die Implantate im Alter zwischen ein bis vier Jahren eingesetzt.
Bisher war man davon ausgegangen, dass diese Kinder durch die geringere Hörqualität mit diesen Implantaten und den späteren Zugang zu Sprache erst sehr viel später das Sprachniveau Normalhörender erreichen können. Frühere Studien hatten gezeigt, dass Kinder ab dem Moment, ab dem sie das Gerät tragen, etwas länger brauchen, um wichtige Stufen beim Lernen der eigenen Muttersprache zu erklimmen. So können sie beispielsweise erst mit sechs bis acht Monaten Hörerfahrung statt mit spätestens vier Monaten den Rhythmus der eigenen Muttersprache von dem anderer Sprachen unterscheiden. Das könnte wiederum bedeuten, dass bei ihnen auch andere Entwicklungsschritte beim Sprachlernen bis hin zur Schulreife verzögert sind—obwohl sie alle anderen Voraussetzungen dafür mitbringen.
Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und des Universitätsklinikums Dresden scheint nun jedoch anderes zu offenbaren: „Wir haben beobachtet, dass taube Kinder, sobald sie das Cochlea-Implantat eingesetzt bekommen hatten, schneller Wörter lernten als normalhörende Kinder. Sie bauten sich so schneller den entsprechenden Wortschatz auf“, erklärt Niki Vavatzanidis, Erstautorin der zugrundeliegenden Studie und Wissenschaftlerin am MPI CBS sowie am Uniklinikum Dresden. Normalerweise bräuchten Kinder etwa 14 Monate Hörerfahrung, um verlässlich zu bemerken, dass bekannte Objekte falsch benannt wurden. Kindern mit Cochlea-Implantat waren dazu bereits nach 12 Monaten Lernzeit in der Lage.
Als Ursache dafür vermuten die Wissenschaftler das höhere Alter der Kinder mit künstlichen Hörschnecken, in dem sie das erste Mal mit gesprochener Sprache in Berührung kommen: Normalhörende beginnen direkt nach der Geburt oder gar im Mutterleib damit, sprachliche Aspekte wie die typische Melodie oder den Rhythmus der Muttersprache zu lernen. Bei taub geborenen Kindern beginnt das hingegen erst nachdem das Implantat aktiviert wurde, also etwa im Alter von ein bis vier Jahren. Dann sind gewisse Strukturen im Gehirn bereits stärker entwickelt, an die sie beim Spracherwerb anknüpfen können. „Bei ihnen ist nicht nur das Gedächtnis weiter entwickelt. Sie haben auch ein breiteres Verständnis von der Welt, wissen also mehr über die Objekte in ihrer Umwelt und haben dadurch bereits nicht-sprachliche semantische Kategorien aufgebaut“, so Vavatzanidis. Sie wissen zum Beispiel, dass Objekte wie Tassen oder Essen manchmal heiß sind und Hitze bei Berührung weh tun kann, auch wenn sie das Wort „heiß“ nicht kennen.
Untersucht haben die Neurowissenschaftler diese Zusammenhänge mithilfe von 32 Kindern, die auf beiden Seiten ein Cochlea-Implantat trugen. Mit ihnen führten die Forscher 12, 18 und 24 Monate nachdem die Kleinen die künstlichen Hörschnecken eingesetzt bekommen hatten, einen Test durch, in dem sie Wörter aus dem Basiswortschatz von Kleinkindern erkennen sollten: Dazu zeigten sie den jungen Studienteilnehmern Bilder von Objekten und benannten diese entweder richtig oder falsch. Gleichzeitig erfassten sie mithilfe der Elektroenzephalografie, kurz EEG, die Hirnströme der Kleinen. Zeigte sich hier im Verlauf der sogenannte N400-Effekt, signalisierte das den Forschern, dass die Kinder die Falschbenennung registrierten. Bei ihnen hatte sich also eine feste Verknüpfung zwischen Objekt und Bezeichnung gebildet, sie hatten das Wort gelernt.
„Kinder mit Cochlea-Implantat helfen zu verstehen, welchen allgemeinen Weg der Spracherwerb nimmt und welche Stadien vom Lebensalter abhängen“, erklärt Angela D. Friederici, Leiterin der Studie und Direktorin am MPI CBS. „Wir wissen nun, dass sich ein höheres Lebensalter nicht negativ darauf auswirkt, wie schnell Kinder Wörter lernen können. Im Gegenteil: Sie scheinen ihren anfänglichen Rückstand rasch aufholen zu können.“ Nun gelte es herauszufinden, warum trotz dieser Leistung ein Teil der Kinder mit Chochlea-Implantat insgesamt nur schwer zum Sprachniveau gleichaltriger, normalhörender Kindern gelangen.