Erkennen, vorhersagen, reagieren: unser Gehirn im Alter
Studie untersucht altersbedingte Veränderungen der Gehirnfunktion
Eine möglichst genaue Vorhersage der Handlung anderer Personen ist für unser alltägliches soziales Leben, unsere Interaktion mit Anderen, eine der wichtigsten Fähigkeiten überhaupt. Ohne sie wären wir nicht in der Lage, schnell und effizient auf unser Gegenüber und die jeweilige Situation zu reagieren. Inwieweit diese Fähigkeit mit dem Alterungsprozess abnimmt, und welche Veränderungen der Gehirnaktivität diesem Prozess zugrunde liegen, untersuchte nun erstmals Nadine Diersch vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Stellen Sie sich beispielweise vor, Sie versuchen auf einem überfüllten Bahnsteig Ihren Zug zu bekommen oder bereiten sich in einem Volleyballspiel darauf vor, den Aufschlag des Gegners anzunehmen. Ohne dass es Ihnen bewusst wird, analysiert Ihr Gehirn blitzschnell die beobachteten Handlungen der Anderen und trifft dabei Vorhersagen über deren Bewegung. Diese Vorhersagen nutzt ihr Gehirn dann wiederum dazu, eine adäquate Reaktion auszulösen, so dass Sie entgegenkommenden Leuten auf dem Bahnsteig ausweichen oder den Ball des Gegners abfangen können. Älteren scheint dies oftmals weniger gut zu gelingen als jüngeren Personen.
Erklärt wird dieses Phänomen häufig mit der im Alter abnehmenden Reaktionsschnelligkeit. In Ratgebern wird oft empfohlen, diese Fähigkeit durch tägliche Sportübungen oder Gehirnjogging in Form von Rätselaufgaben zu trainieren, um den Repressionen entgegenzuwirken. Dabei ist bisher wenig bekannt über die grundlegenden neuronalen Prozesse und deren Veränderung im Lauf des Alterungsprozesses des Menschen. Forscherin Nadine Diersch hat in einer umfangreichen Studie mit praktischen Experimenten versucht, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Dazu hat sie sowohl jüngere und ältere Eiskunstläufer als auch Laien ins Labor gebeten und ihnen kurze Filmsequenzen vorgespielt, die Eislaufprofis beim Training zeigen. Zur Kontrolle wurden auch Filmausschnitte gezeigt, die einfache alltäglich Bewegungen (z.B. normales Laufen) darstellten. Dabei wurden die gezeigten Handlungen zu bestimmten Zeitpunkten ausgeblendet und liefen anschließend sichtbar – entweder zeitlich verändert oder zeitlich stimmig – weiter. Die Probanden sollten nun einschätzen, ob die Handlung nach der Ausblendung korrekt (kongruent), weiterlief oder nicht. Während die Probanden ihre Aufgaben lösten, zeichnete die Forscherin die Aktivitäten ihrer Gehirne mittels funktioneller Magnetresonanztomograhie (fMRT) auf und erfasste so bestimmte Aktivierungsmuster.
Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass während der Handlungsvoraussage verschiedene Gehirnregionen aktiviert werden und dass diese abhängig von Alter und Erfahrung zum Einsatz kommen. So konnte Diersch beobachten, dass sowohl die älteren Teilnehmer als auch die Laien nicht nur das sogenannte Handlungsbeobachtungsnetzwerk (AON) nutzten. Bei ihnen waren zusätzlich vor allem visuelle Bereiche des Gehirns aktiviert. Diese Ergebnisse legen nahe, dass mit dem Alter eine funktionelle Reorganisation des Gehirns einhergeht. Mit der Aktivierung zusätzlicher Gehirnareale wird also eine verminderte Leistungsfähigkeit bestimmter Regionen – in diesem Fall des AON – kompensiert. Dies funktioniert dann also ähnlich wie bei jüngeren Laien, die bei der Beobachtung unvertrauter Bewegungen ebenfalls mehr auf visuelle Bereiche des Gehirns zurückgreifen.
„Die Befunde liefern wichtige Hinweise für die Entwicklung von Interventionsansätzen, die auch im höheren Alter ein erfolgreiches Zurechtfinden im Alltag erlauben“ , erklärt Diersch.