Die Vielfalt und ihr Fundament: Neuronale Grundlagen des Sprachenreichtums

Wer sich für Sprachen interessiert, der hat die breite Auswahl – denn Artenvielfalt findet sich nicht nur im Tier- und Pflanzenreich: Mehr als 6000 verschiedene Sprachen werden heute weltweit gesprochen.

Schon lange versucht ein eigener Zweig der Sprachwissenschaft, die Typologie, Ordnung in das Meer von einander fremd scheinenden Klänge und Strukturen zu bringen, indem sie Sprachen etwa auf ihre grammatischen Eigenschaften hin vergleicht. Auch in der fast unüberschaubaren Fülle – vom Deutschen bis zu den über 800 Sprachen auf Papua-Neuguinea – müssen dabei Prinzipien wirken, die allen Sprachen gemeinsam sind. Schließlich hat jede von ihnen letztlich die gleiche Quelle: das menschliche Gehirn.

„Heute können wir sehr genau verfolgen was im Hirn vor sich geht, wenn sprachliche Äußerungen gehört oder gelesen werden“, sagt Ina Bornkessel-Schlesewsky. Der Computerbildschirm der jungen Wissenschaftlerin ist im Moment voller EEG-Kurven, die aus Sprachexperimenten mit chinesischen Muttersprachlern stammen. Über Elektroden auf der Kopfhaut wurden bei den Probanden Änderungen der Hirnaktivität während der Sprachverarbeitung gemessen. Indem sie auf diese Weise Sprachen direkt auf ihre Verarbeitung im Hirn hin vergleichen, wollen die Forscher in der von Bornkessel-Schlesewsky geleiteten Gruppe die Basismechanismen des menschlichen Sprachvermögens identifizieren – und begründeten nebenbei eine neue sprachwissenschaftliche Disziplin: die Neurotypologie. Der veränderte Blickwinkel bringt teils überraschende Ergebnisse hervor. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die scheinbar recht ähnlichen Sprachen Deutsch und Englisch nicht, wie man erwarten könnte, auch auf ähnliche Weise in den grauen Zellen verarbeitet werden. Im Gegenteil: Japanisch zum Beispiel ist dem Deutschen in dieser Hinsicht ähnlicher als das Englische. Dieses wiederum ähnelt teilweise dem Finnischen.

„Zurzeit konzentrieren wir uns auf die Prozesse bei der Interpretation von Sätzen“, erzählt die Wissenschaftlerin. In der älteren Forschung habe man lange geglaubt, die Verarbeitung eines Satzes beginne erst, wenn das Verb ins Spiel kommt. Tatsächlich durchläuft von Beginn an jedes Wort in Bruchteilen einer Sekunde mehrere Analyseschritte, die automatisiert sind, also unbewusst stattfinden. Nur so sei Sprachverstehen in Echtzeit, also ohne Verzögerung, überhaupt möglich. „Auch wenn die Information vor dem Prädikat noch unvollständig ist, versucht das Hirn bereits eine Vorstellung der Art der Handlung zu erlangen, um die es im jeweiligen Satz geht“, sagt die Linguistin. Dabei streben die grauen Zellen danach, abzuschätzen, von wem die Handlung ausgeht und wer von ihr betroffen ist.

Ein universales Gebot scheint deshalb für alle Sprachen zu gelten: Dem Hirn sollte es leicht fallen, Subjekt und Objekt der Handlung auseinander zu halten. Um möglichst schnell zu dieser Unterscheidung zu gelangen, verfolgt das Sprachzentrum Interpretationsstrategien: „Eine davon ist die Subjektpräferenz: Von zwei Handlungsteilnehmern hält das Hirn stets denjenigen für den aktiven, der im Satz an erster Stelle steht“, erklärt Bornkessel-Schlesewsky. Bei einem Satz wie „Der Museumswärter zerstörte die Vase“ geht diese Strategie auf – nicht aber bei „Die Vase zerstörte der Museumswärter.“ Zwar lässt sich auch diese Variante verstehen, vom Hirn erfordert sie jedoch erhöhte Aktivität. Auch ob die Handlungsteilnehmer über ein Bewusstsein verfügen, scheint von Bedeutung zu sein. Am effizientesten können Sätze, nach den Beobachtungen der Forscher, dann verarbeitet werden, wenn in ihnen ein belebter Handelnder auf einen Gegenstand der unbelebten Umwelt einwirkt. Spielt man Probanden also einen Satz vor wie „Klaus hofft, dass der Hausmeister die Scheibe repariert.“, bleiben die Werte des EEG unauffällig. Wird das Ereignis jedoch von einem unbelebten Objekt ausgelöst, etwa bei „Klaus fragt sich, welchen Gärtner der Stein traf“, bedeutet es zusätzliche Arbeit für das Denkorgan.

Das Prinzip maximaler Unterscheidbarkeit scheint quer durch alle bisher getesteten Sprachen zu wirken. An der Sprachoberfläche zeigt es sich allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Das Englische etwa ist geprägt von einer strengen Wortstellung, so dass die Rollenzuweisung meist leicht fällt, denn stets gilt die Regel Subjekt vor Prädikat vor Objekt. Die meisten älteren Modelle menschlicher Sprachverarbeitung basierten auf europäischen Sprachen, insbesondere dem Englischen. „Der Blick auf fernere Sprachen zeigt aber, dass auch ganz andere Lösungen existieren“, meint Bornkessel-Schlesewsky. Im Fore zum Beispiel, einer Sprache, die auf Papua-Neuguinea gesprochen wird, spielt die Wortstellung keine Rolle. Sie ist frei, dafür gibt es eine strenge Belebheitshierarchie mit dem Menschen an der Spitze. Wenn in einem Fore-Satz die Worte für Schwein, töten und Mann vorkommen, ist es immer der Mann, der das Schwein tötet, völlig unabhängig von seiner Position im Satz. „Will man ausdrücken, dass das Schwein den Mann tötet, muss dies besonders markiert werden.“

Keine Einzelsprache könne daher als prototypisch gelten – je mehr möglichst unterschiedliche Sprachen man untersuche, desto besser. Derzeit arbeitet die Forschergruppe mit Sprechern der Sprachen Chinesisch, Deutsch, Englisch, Hindi, Isländisch, Japanisch, Tamil und Türkisch. Um endgültig zu verstehen wie die vielleicht grundlegendste Fähigkeit menschlichen Denkens im Hirn organisiert ist, werden noch viele Sprecher aus aller Welt verkabelt werden müssen. Täglich kommen so neue Bausteine zu dem Fernziel der Wissenschaftler hinzu: einem allgemeinen Modell der menschlichen Sprachverarbeitung im Hirn.

Ina Bornkessel-Schlesewsky, Leiterin der ehemaligen Max-Planck-Forschungsgruppe Neurotypologie, hat 2009 eine Professur für Neurolinguistik am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft, Phillips-Universität Marburg angetreten. In der von ihr geleiteten Arbeitssgruppe untersucht die Forscherin weiterhin neurokognitive Grundlagen des menschlichen Sprachverstehens.

1 Ina Bornkessel-Schlesewsky, Leiterin der ehemaligen Max-Planck-Forschungsgruppe Neurotypologie, hat 2009 eine Professur für Neurolinguistik am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft, Phillips-Universität Marburg angetreten. In der von ihr geleiteten Arbeitssgruppe untersucht die Forscherin weiterhin neurokognitive Grundlagen des menschlichen Sprachverstehens.

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