Forschungsbericht 2020

 

Studie 1: Das Gehirn hat zwei Systeme, um sich in andere hineinzuversetzen

Studie 2: Eltern und Kinder auf einer Wellenlänge

 

  


Das Gehirn hat zwei Systeme, um sich in andere hineinzuversetzen

Ein Katz-und-Maus-Spiel: Wo wird die Katze nach der Maus suchen? Wenn die Katze nicht gesehen hat, wo die Maus zuletzt hin ist, sind erst Vierjährige sind in der Lage, diese Frage richtig zu beantworten. Im Alter von vier Jahren sind die entsprechenden Hirnregionen dafür ausgereift.

Im Laufe des Lebens entwickelt ein Mensch die Fähigkeit zu verstehen, was ein anderer denkt und wie dieser sich verhalten wird. Diese Fähigkeit, sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen, wird auch als Theory of Mind bezeichnet. Welche Strukturen im Gehirn dazu genutzt werden, konnte man schon in Studien mit Erwachsenen nachweisen. In welchem Alter Kinder erstmals dazu in der Lage sind, darüber waren sich Forscher bislang allerdings uneins.

Was haben wir untersucht?

In unserer Studie haben wir diese Fähigkeit zur Perspektivübernahme bei drei- und vierjährigen Kindern mit Hilfe eines Videoclips untersucht. Darin ist eine Katze zu sehen, die eine Maus dabei beobachtet, wie sie in einer Kiste verschwindet. Anschließend kehrt die Katze der Kiste für einen Moment den Rücken zu, die Maus huscht unbemerkt in die benachbarte Box. Als die Katze sich wieder der Szenerie widmet, will sie nach ihrer Beute schauen – und möchte nach der Maus suchen. “Wo wird sie suchen?”, fragten wir die Kinder an dieser Stelle. Mithilfe der sogenannten Eye-Tracking-Methode beobachteten wir außerdem das Blickverhalten unserer kleinen StudienteilnehmerInnen, um auch daraus Rückschlüsse auf ihre Erwartungen darüber, wo die Katze suchen wird, ziehen zu können.

An einem anderen Tag haben dieselben Kinder dann an einer Messung im Magnetresonanztomographen (MRT) teilgenommen, mit der wir den Reifezustand bestimmter Hirnstrukturen erfassen konnten.

Und was kam heraus?

Es zeigte sich bei der Analyse des Blickverhaltens, dass sowohl die Drei- als auch Vierjährigen richtig voraussehen konnten, wo die Katze suchen wird. Sie erkannten, dass die Katze die Maus noch immer in ihrem ersten Unterschlupf erwartet und dort suchen wird – obwohl sie selbst wussten, dass sich die Maus an anderer Stelle befindet.

Interessanterweise antworteten die Dreijährigen als wir sie explizit danach fragten, wo die Katze nach der Maus suchen werde, allerdings falsch. Sie konnten zwar mit ihrem Blick richtig vorhersagen, wo die Katze suchen wird, dies aber nicht beantworten, wenn sie explizit danach gefragt wurden. Erst Vierjährigen gelang es, meistens die richtige Antwort zu geben. Aus Kontrollaufgaben wussten wir, dass dies nicht daran lag, dass die Jüngeren die Frage nicht verstanden hatten, es fiel ihnen einfach schwer, sich explizit in die Perspektive der Katze hineinzuversetzen und anzugeben, dass sie am falschen Ort suchen wird.

Die MRT-Aufnahmen zeigten, dass einige Hirnstrukturen, die schon bei Dreijährigen gut ausgebildet waren, das korrekte Blickverhalten während der Aufgabe zu unterstützen scheinen. Andere Hirnstrukturen waren erst bei den Vierjährigen soweit ausgereift, dass sie die explizite Perspektivübernahme ermöglichten, so dass erst Vierjährige richtig beschreiben konnte, wo die Katze fälschlicherweise suchen wird.

Was genau bedeutet das?

Unsere Studie zeigt, dass Kinder und vermutlich auch wir Erwachsene unterschiedliche Hirnstrukturen für unsere impliziten, non-verbalen Erwartungen an die Handlungen anderer verwenden als wenn wir explizit über die Perspektive und Handlung anderer nachdenken und dies in Worte fassen müssen. Wir sprechen hier von Arealen für die implizite und die explizite Theory of Mind. Beide Bereiche sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten so weit entwickelt, dass sie ihre Funktionen erfüllen können. Im Supramarginalen Gyrus, der Region für die implizite, non-verbale Perspektivübernahme, ist die Großhirnrinde, der Cortex, bereits früher entsprechend weit ausgereift. Damit können bereits Kleinkinder die Handlungen anderer vorhersehen. Erst im Alter von vier Jahren sind dann der temporoparietale Übergang und der Precuneus entsprechend herangereift. Diese Regionen ermöglichen, dass wir explizit verstehen, was andere denken – und nicht nur, was sie fühlen und sehen oder wie sie handeln werden.

Demnach verstehen Kinder in den ersten drei Lebensjahren noch nicht im vollen Umfang, was andere denken und dass sich dies manchmal von der eigenen Perspektive des Kindes unterscheidet. Für diese frühe Phase in der Kindheit übernehmen Kinder womöglich einfach den Blick des anderen. Als Baby oder Kleinkind wäre dies gar nicht so unpraktisch, denn womöglich ist es wichtiger zu wissen, was die Mama oder der Papa tun werden und erwartungsvoll in ihre Richtung zu schauen, als selber zu wissen, wo etwas zu suchen ist.

 


Eltern und Kinder auf einer Wellenlänge

Analog zum Funkverkehr, wo Sender und Empfänger auf der gleichen Wellenlänge liegen müssen, synchronisiert sich unser Verhalten während sozialer Interaktion. Doch was passiert dabei genau im Gehirn - insbesondere von Eltern, die mit ihren Kindern puzzeln - und wie hängt dies mit der Eltern-Kind Beziehungsqualität zusammen?

Für den Erwerb sozialer und emotionaler Kompetenzen spielen bei Kindern Interaktionen mit ihren Eltern eine zentrale Rolle. Was dabei in den Gehirnen der Kinder und Eltern passiert, wurde jedoch bisher kaum erforscht. Im Verlauf der letzten drei Jahre fand daher am MPI CBS[1] eine Reihe von Studien[2] statt, die sich genau dieser Frage widmeten und dazu mehr als 180 Mutter- und Vater-Kind-Paare mittels dualer funktioneller Nah-Infrarot-Spektroskopie (fNIRS) untersuchten.

Neue technologische Entwicklungen in den sozialen Neurowissenschaften erlauben es seit kurzem anstatt einer einzelnen Person zwei (oder mehr) Personen gleichzeitig mittels bildgebender Verfahren zu untersuchen. Dadurch kann die Gehirnaktivität der miteinander interagierenden Individuen verglichen und auf übereinstimmende Muster hin überprüft werden.

Ein spezielles Augenmerk gilt dabei der wechselseitigen Anpassung der Gehirnaktivität, auch neuronale Synchronie genannt. Zustande kommt die neuronale Synchronie durch gleichzeitige und wiederkehrende Aktivierung von Neuronengruppen – sogenannte interne (oder endogene) Oszillatoren – in beiden Interaktionspartnern. Genauer gesagt beeinflussen die neuronalen Oszillatoren des/der einen Interaktionspartner*in die Oszillatoren des/der anderen Partners*in und passen sich diesen an. Die daraus resultierende neuronale Synchronie wird als notwendig erachtet, damit die Interaktionspartner einander verstehen und sich während der Interaktion emotional miteinander verbunden fühlen.

Bisher wurde neuronale Synchronie während sozialer Interaktion vorrangig bei Erwachsenen untersucht. Was im Gehirn von Eltern und ihren Kindern passiert, blieb daher bisher unklar. Es gibt jedoch starke Indizien dafür, dass Synchronie im Verhalten und der Physiologie zwischen Eltern und ihren Kindern für die soziale und emotionale Kindesentwicklung eine zentrale Rolle spielt. Zudem scheint die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, welche unter anderem anhand der Enge und Sicherheit der Eltern-Kind-Bindung erfasst werden kann, bei diesem Prozess ausschlaggebend zu sein.

Was haben wir untersucht?

In unseren drei Studien untersuchten wir mit Hilfe von fNIRS die neuronale Synchronie während die Eltern-Kind Paare entweder gemeinsam (oder als Kontrollkondition alleine) Tangram-Puzzles lösten oder sich miteinander unterhielten. Alle Kinder waren zwischen fünf und sechs Jahre alt. Wir zeichneten das Puzzeln und die Gespräche auf und kodierten die Videos anschließend nach bestimmten Kriterien. In Kombination mit Daten aus Fragebögen konnten wir daraus die Beziehungsqualität bestimmen. Außerdem erfassten wir mittels fNIRS und daher basierend auf Infrarot-Lichtabsorption die individuelle Gehirnaktivität in der äußersten Schicht des Gehirns. Wir haben uns für dieses bildgebende Verfahren entschieden, weil es komplett nichtinvasiv und zudem im Vergleich zu anderen bildgebenden Verfahren viel weniger bewegungsempfindlich ist, was gerade für Studien mit Kindern einen großen Vorteil darstellt. Schließlich haben wir die individuelle Gehirnaktivität in ein Maß der wechselseitigen Anpassung oder neuronalen Synchronie umgerechnet und auf Assoziationen mit den Beziehungsqualität-Indikatoren hin untersucht.

Und was kam heraus?

Während des gemeinsamen (versus individuellen) Puzzelns war bei den Eltern-Kind-Paaren die neuronale Synchronie erhöht[3] und während der Unterhaltung nahm die neuronale Synchronie mit zunehmender Gesprächsdauer zu[4]. Zudem fanden wir Anzeichen dafür, dass eine höhere Beziehungsqualität mit stärkerer neuronaler Synchronie einherging. Interessanterweise fanden wir in den Ergebnissen der Mutter-Kind-Daten im Vergleich zu den Vater-Kind-Daten nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch ein paar Unterschiede[5]. So war die neuronale Synchronie nicht immer in den gleichen Gehirnarealen am stärksten. Zudem waren unterschiedliche Beziehungsqualitäts-Indikatoren mit der neuronalen Synchronie assoziiert.

Und was bedeutet das?

Wir konnten mit unseren neuen Daten die bisher verfügbaren Erkenntnisse zur neuronalen Synchronie während sozialer Interaktion bei Erwachsenen auf Eltern-Kind-Paare ausweiten.
So deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sich während sozialer Interaktion die Gehirnaktivität sowohl in Mutter-Kind- als auch Vater-Kind-Paaren synchronisiert und dass das Ausmaß der Synchronie mit der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zusammenhängt.

Allerdings scheint die Funktion der neuronalen Synchronie dabei nicht identisch zu sein. Was dies genau für eine möglicherweise unterschiedliche Rolle von Müttern und Vätern in Bezug auf die soziale Interaktion mit ihren Kindern bedeutet, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Wir hoffen, dass die bei den Müttern und Vätern ebenfalls erhobenen funktionellen und strukturellen Magnetresonanztomografie (MRT)-Daten einen Teil zur Lösung des Rätsels beitragen werden.



[1] Forschungsgruppe "Entwicklung Sozialer Kognition" und Forschungsgruppe „Sozialer Stress und Familiengesundheit“
[2] CARE, D-CARE und M-CARE – mehr Informationen dazu hier.
[3] Nguyen et al. (2020), Cortex
[4] Nguyen et al. (in press / published online), Social Cognitive Affective Neuroscience
[5] Nguyen et al. (in press), Child Development – Preprint

Zur Redakteursansicht