Automatisch oder kontrolliert

Der Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn gehört mehrheitlich noch immer zu den großen Geheimnissen der Natur. Seit langem sind Wissenschaftler bemüht, der Funktion und dem Zusammenspiel einzelner Bereiche unseres Denkorgans auf die Spur zu kommen.

23. April 2015

Immer wieder ergeben sich überraschende empirische Ergebnisse, die bisherige Erklärungsmodelle revidieren. Angela D. Friederici, Direktorin der Abteilung Neuropsychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, und ihre Mitarbeiterin Hyeon-Ae Jeon haben nun ein neues Modell zur Verarbeitung von hierarchischen Denk- und Handlungsstrukturen im menschlichen Gehirn entwickelt, das auf die entscheidende Frage abhebt, wie stark automatisch der jeweilige Prozess abläuft.

Die Wörter einer Sprache nach bestimmten erlernten Regeln kombinieren zu können, ist eine einzigartige Fähigkeit des Menschen. Es ist unser hochentwickeltes Gehirn, das es ermöglicht, syntaktische Regeln einer Sprache zu erlernen und sie zu verwenden. Bislang hat die Forschung zwei wichtige Regionen im menschlichen Gehirn nachgewiesen, die diese Fähigkeiten maßgeblich bestimmen: das Broca-Areal im Stirnlappen, welches die syntaktischen Prozesse unterstützt, und das Wernicke-Areal im Schläfenlappen, das in erster Linie für die Verarbeitung von Wörtern und Bedeutung zuständig ist.

Die Assoziation zwischen einem Wort und einem Objekt, also das Erlernen von Wortbedeutungen, ist auch Tieren möglich: So erlernen Hunde beispielsweise einfache Wortkommandos. Für die Verarbeitung menschlicher Sprache jedoch benötigt das Gehirn die Fähigkeit, Hierarchien zwischen Wörtern und Satzteilen zu bilden und zu erkennen. Diese Fähigkeit ist aus Sicht der Wissenschaftler eng mit dem Broca-Areal im linken Stirnlappen des Präfrontalen Cortex (PFC) verbunden.

Der PFC als Teil des Frontallappens der Großhirnrinde gilt generell als bedeutend für die situationsangemessene Handlungssteuerung beim Menschen. Wissenschaftlich nachgewiesen und allgemein anerkannt ist, dass ein Teil des PFC, der sogenannte dorsolaterale PFC, sowie weitere frontalliegende Bereiche bei der Verarbeitung kognitiver Hierarchien aktiviert sind. Diese vorderen Gehirnbereiche gelten bisher als das System, welches in Verarbeitungsprozesse mit hoher kognitiver Kontrolle einbezogen ist.

Die aktuellen Studienbefunde jedoch offenbaren einen Widerspruch: Einerseits beanspruchen Prozesse von hoher kognitiver Hierarchie und Kontrolle die vordere Hirnregion, andererseits jedoch rufen Sprachprozesse mit steigender Komplexität speziell nur eine Aktivierung im hinteren Anteil des Broca-Areals hervor.

Um die Frage zu beantworten, worin der Grund für die unterschiedliche Repräsentation von Hierarchie bei kognitiver Kontrolle einerseits und Hierarchie in der Muttersprache andererseits liegt, haben Angela D. Friederici und Hyeon-Ae Jeon ihr Augenmerk nun auf die Rolle des Automatisierungsgrades eines Verarbeitungsprozesses gerichtet: Die Verarbeitung von Muttersprache bei Erwachsenen läuft weitgehend automatisch ab, was im Erwachsenengehirn zu einer Aktivierung im hinteren Anteil des Broca-Areals führt. Im heranreifenden Gehirn bei Kindern, bei denen die Muttersprache noch nicht hochautomatisiert ist, sind bei der Verarbeitung komplexer Syntax dagegen eher vordere Bereiche des Broca-Areals einbezogen – so auch bei Erwachsenen, wenn diese eine spät erlernte Zweitsprache benutzen.

Die Wissenschaftlerinnen verglichen nun Ergebnisse verschiedener Studien und analysierten, wie sich ein unterschiedlicher Automatisierungsgrad auf die Repräsentation während der hierarchischen Verarbeitung im Gehirn auswirkt, also wann welche Gebiete aktiviert sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die hierarchische Verarbeitung bei Aufgaben mit geringem Automatisierungsgrad bei steigendem hierarchischen Grad zu einer Aktivierungsverschiebung vom hinteren zum vorderen Bereich führt. Für die Muttersprache, also die Verarbeitung mit hohem Automatisierungsgrad, bleibt die Aktivierung dagegen auf den hinteren Bereich des Broca-Areals begrenzt – wie bei Verarbeitungsaufgaben mit höchstem Hierarchie-Grad.

Vergleicht man die Ergebnisse auf ein und derselben Niveaustufe der Hierarchie, stellt man fest, dass die vordere Region mehr Aktivierung zeigt, wenn Prozesse mit niedrigem Automatisierungsgrad von statten gehen, während die hintere Region des Broca-Areals eher aktiviert ist, wenn der Automatisierungsgrad hoch ist.

In Konsequenz daraus entwickelten die Wissenschaftlerinnen ein Erklärungsmodell, das die theoretischen Überlegungen und die Ergebnisse der empirischen Studien zusammenfasst. Sie schlagen vor, den Automatisierungsgrad eines Verarbeitungsprozesses als entscheidendes Kriterium bei der funktionellen Organisation des Präfrontalen Cortex anzunehmen: Vordere Bereiche sind eher zuständig für die kontrollierten Prozesse mit geringem Automatisierungsgrad (z.B. Fremdsprache), hinten ansässige Regionen unterstützen eher hoch automatisierte Prozesse (z.B. Muttersprache).

Weitere Untersuchungen werden zeigen müssen, inwiefern sich dieses Modell generalisieren lässt und auf andere kognitive Bereiche, wie beispielsweise die Verarbeitung von Musik, übertragen werden kann.

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