Multitasking
Pluripotente Netzwerke managen Sprachverarbeitung im menschlichen Gehirn
Die Verarbeitung von Sprache ist zweifellos eine hochkomplexe Aufgabe für unser Gehirn. In einem gemeinsamen Artikel haben Angela D. Friederici, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, und Wolf Singer, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, nun jedoch aufgezeigt, dass ein relativ kleiner Satz funktionsselektiver Nervenzellen im Prinzip ausreicht, um die nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten sprachlicher Elemente realisieren zu können.
Ermöglicht wird dies durch die Struktur der miteinander verbundenen kleineren und größeren neuronalen Netzwerke, die sich – je nach funktioneller Anforderung – selbst organisieren. Dabei kooperieren Gruppen von Neuronen auf der Basis grundlegender neurophysiologischer Bedingungen zeitlich begrenzt und flexibel miteinander. Diese Flexibilität wird durch die Multitasking-Fähigkeit der Neuronen gewährleistet. Erst durch die zeitweise Einbettung in ein temporär bestehendes Netzwerk wird dann ihre jeweilige Funktion bestimmt.
Das menschliche Nervensystem setzt sich aus unzähligen Neuronen und mindestens ebenso vielen Gliazellen zusammen. Schätzungsweise 100 Milliarden dieser Neuronen bilden Netzwerke aus kleineren und größeren Schaltkreisen, die in funktionellem Zusammenhang stehen und über Nervenfaserbündel Informationen austauschen. Die Forschung konnte einzelne solcher Netzwerke und ihre Funktion innerhalb des Gehirns mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie aber auch der Elektroenzephalographie lokalisieren, abbilden und analysieren.
So ist es Wissenschaftlern mittlerweile gelungen, das Neuronennetzwerk, das unsere Sprachfähigkeit garantiert, zu einem großen Teil zu verorten und abzubilden. Neben dem Broca-Areal, welches vor allem für die Syntax-Verarbeitung verantwortlich ist, wird das Wernicke-Areal als wichtig für die Entschlüsselung von Semantik angesehen. Die Lokalisierung dieser separaten Netzwerke erklärt jedoch die komplexe Verarbeitung von Sprache, die verschiedene Elemente wie Grammatik (Syntax), Bedeutung (Semantik) oder auch Aussprache (Phonetik) miteinander verknüpft, nur unzureichend. Hierfür bedarf es nicht nur der Entschlüsselung der Organisationsstrukturen innerhalb der kleinen Schaltkreise, sondern auch deren zeitliche Organisation innerhalb des gesamten Netzwerkes.
Dies klingt einfacher, als es ist: Die systematische Analyse der gesamten Verarbeitung von Sprache ist äußerst schwierig. Zum einen ergeben die Verschachtelungen von Syntax und Semantik (und weiterer Sprachelemente) derart komplexe Verarbeitungsmuster, dass eine Aufschlüsselung mit den gängigen Verfahren bisher nicht möglich war. Zum anderen besitzt insbesondere die semantische Verarbeitung von Sprache eine Eigenschaft, die sich systematischen Untersuchungsmethoden weitgehend entzieht: Die Bedeutung einzelner Wörter wird von jedem Menschen in einem individuellen Kontext erlernt. Ein und dasselbe Wort, beispielsweise „Zitrone“ ist für jeden von uns mit ganz unterschiedlichen Assoziationen verknüpft – das kann die Farbe Gelb sein; der einprägsame saure Geschmack, den wir als Kind beim ersten Probieren wahrgenommen haben; die Erinnerung an einen Urlaub; der Geruch von Zitronenlimonade, die unsere Oma immer Kühlschrank hatte oder vieles andere. Das hat zur Folge, dass ein und dasselbe Wort bei verschiedenen Individuen ganz unterschiedliche Aktivierungsmuster im Gehirn hervorruft, die so unähnlich sind, dass sich daraus keine validen, zu verallgemeinernden Ergebnisse ableiten lassen.
Auch einzelne Neuronen oder kleine Neuronengruppen und deren Arbeitsweise abzubilden ist mit heutigen Mittel kaum möglich, das modernste nicht-invasive Verfahren, die Magnetresonanztomographie, erlaubt lediglich die Visualisierung von räumlichen und zeitlichen Aktivierungsmustern. Alternativ könnten jedoch Daten aus Studien mit nichtmenschlichen Primaten herangezogen werden, denn nach Auffassung der Autoren basieren auch komplexe Prozesse, die nur im menschlichen Gehirn realisiert werden – wie beispielsweise die Verarbeitung von Syntax – auf den gleichen neurophysiologischen Grundprinzipien wie andere kognitive Funktionen, die auch bei anderen Spezies vollzogen werden, wie das Erkennen von Objekten.
Nach dieser Auffassung wird die Verarbeitung in spezialisierten Gehirnarealen realisiert, die große dynamische Netzwerke bilden. Die spezifische Funktion, die dabei einzelnen Schaltkreisen zukommt, ergibt sich aber vor allem aus ihrer Einbettung innerhalb des jeweiligen Netzwerkes, weniger aus ihrer eigentlichen Organisation. Die Verarbeitung von Sprachlauten oder Wörtern basiert also nicht auf einzelnen spezialisierten Neuronen, sondern auf kleinen Neuronengruppen mit bestimmter Aufgabe, die temporär miteinander kooperieren und flexibel kombiniert werden. Das ermöglicht eine nahezu unendliche Zahl von Kombinationsmöglichkeiten, die mit Hilfe eines relativ kleinen Sets von funktionsselektiven Neuronen realisiert werden können.
Diese Neuronengrüppchen partizipieren dabei nicht nur in einem Netzwerk. Sie formieren sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen, sich selbst organisierenden neuronalen Netzwerken, abhängig von Stimulus und Verhaltenszielen. Einzelne Neuronen funktionieren passend dazu als „Multitasking- Elemente“, wie bei nichthumanen Primaten in Studien gezeigt worden ist. Ähnliche Strategien wurden in Studien für das menschliche Hirn nachgewiesen. Dies legt eine genetische Vorbestimmung der Schaltmuster nahe, die kortikale Gebiete befähigen, bestimmte Funktionen zu übernehmen. Diese Funktionen werden dann während der Entwicklung eines Individuums durch erfahrungsbezogene Selektion von Verbindungen optimiert und anschließend durch Lernprozesse verfeinert.
Die Zusammenarbeit der beiden Max-Planck-Forscher Friederici und Singer eröffnet ganz neue Blickwinkel darauf, wie grundlegende, speziesübergreifende neurophysiologische Prinzipien auch die Realisierung von komplexen menschenspezifischen Gehirnleistungen wie Sprache ermöglichen.