Auf der Suche nach den zerbrochenen Worten
Zehn Wissenschaftler von Max-Planck- und Fraunhofer-Instituten haben Bundeskanzlerin Merkel, Bundesforschungsministerin Wanka und Wirtschaftsstaatssekretär Sontowski vergangene Woche ihre besonders innovativen Forschungsprojekte vorgestellt. Unter ihnen auch Professor Angela D. Friederici, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie entwickelt sie einen Frühtest zur Diagnose der Lese-Rechtschreibschwäche. Dadurch kann diese nicht nur früher erkannt, sondern auch effektiver behandelt werden.
"Hören Sie ein A in Apfel? Hören Sie ein A in Birne?" Ein Großteil der Bevölkerung besteht diesen Test spielerisch, denn bei ihm ist das phonologische Bewusstsein entsprechend ausgeprägt. Doch rund jedem zwanzigsten Kind, das heißt durchschnittlich einem Kind pro Schulklasse, würde dies nicht gelingen.
Diese Kinder, zwei Drittel davon Jungen, leiden unter einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibschwäche, der sogenannten Legasthenie. Sie verzweifeln, wenn es darum geht, Wörter und Sätze zu schreiben oder zu lesen. Wörter dehnen sich, zerbrechen, Buchstaben sind unerkennbar. Und das bei ansonsten meist hoher allgemeiner Intelligenz.
Für die betroffenen Kinder bedeutet es vor allem oft jahrelangen schulischen Misserfolg – ohne, dass die wahre Ursache erkannt wird. Darunter leidet ihr Selbstbewusstsein. Ängste, Depressionen und psychosomatische Probleme sind oft die Folge – ganz zu schweigen von den schwierigen Zukunftsaussichten in einer zunehmend verschriftlichten Welt.
Für die deutsche Gesamtwirtschaft bedeutet es jährliche sozioökonomische Kosten von 3,5 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Dafür können in Deutschland fast 600 000 Schüler ein Jahr lang unterrichtet werden.
Das wäre vermeidbar. Denn das Problem ist, dass Legasthenie bisher zu spät erkannt wird. Die gängigen diagnostischen Tests kommen erst am Ende der zweiten Klasse, häufig gar erst am Ende der vierten Klasse, zum Einsatz - nämlich dann, wenn die Schwächen beim Erlernen des Lesens und Schreibens bereits offensichtlich sind. Bis dahin ist allerdings jede Menge wertvolle Zeit vergangen, in der betroffene Kinder bereits viel Frustration erlebt haben. Zeit, die zudem für frühe unterstützende Maßnahmen verloren ist.
Besser wäre es also, wenn man frühzeitig "in die Köpfe der Kinder schauen" könnte. Die neurowissenschaftliche Forschung um Angela D. Friederici macht genau das möglich. Dank der präzisen Erforschung der Sprachnetzwerke im Gehirn können Friederici und ihr Team nun mit mehr als 90 Prozent Exaktheit abschätzen, ob ein Kind unter diesem Defizit leiden wird. Und das bereits im Alter von fünf Jahren.
Denn der Blick in die für die Sprachverarbeitung wesentlichen Hirnareale zeigt zum einen eine geringere Stärke der Hirnrinde, vor allem in einer bestimmten Region in der linken Hirnhälfte. Zum anderen ist die Übertragung von Sprachsignalen in für das Hören wesentlichen Hirnarealen verrauscht. Entscheidend ist jedoch, dass zudem andere wesentliche Strukturen weniger ausgeprägt sind: Die Faserverbindungen zwischen den entscheidenden Spracharealen, die als eine Art Datenautobahnen die Informationen zwischen diesen Hirnbereichen transportieren. Fehlen diese Verbindungen, oder sind sie nur schwach ausgeprägt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Lese-Rechtschreibschwäche auftreten wird.
"Und nun? Alle Kinder zur Vorsorgeuntersuchung zum MRT-Scan?", fragte sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Keineswegs", so Angela D. Friederici. "Diese Untersuchungen sollten sich zunächst auf jene Risikokinder beschränken, bei denen bereits eine Lese-Rechtschreibschwäche in der Familie vorliegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder auch eine Lese-Rechtschreibschwäche zeigen werden, ist groß."
"Mit einer frühzeitigen Diagnose, im Alter von fünf Jahren, befinden wir uns noch in einer Entwicklungsphase, in der das Gehirn sehr plastisch ist. In dieser sensiblen Phase lassen sich noch ganz entscheidende Weichen stellen, denn hier beginnt sich das Sprachnetzwerk in unserem Gehirn erst richtig zu formieren und die gezielte Frühförderung kann ansetzen," erklärt Friederici. "Per hochauflösender, präziser MRT-Bilder konnten wir die anatomischen Unterschiede identifizieren. Nun schließt sich die Forschung nach neuen Diagnosemöglichkeiten an. Neben der MRT und dem EEG sind wir gerade dabei, die Aussagekraft der Hirnstrukturen und –funktionen mit denen der Gene zu kombinieren."
Hier setzt die Kooperation der Neurowissenschaftler vom MPI CBS mit den Kollegen vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie an, um deren Expertise in der genetischen Analyse einzubeziehen.
Die Forscher setzen hier gemeinsam auf zweierlei: Erstens legen sie den Fokus auf die Risikogruppe, also Kinder, bei denen ein Geschwisterkind oder ein Elternteil von Legasthenie betroffen ist, denn Legasthenie wird zu 60 Prozent vererbt. Darüber hinaus arbeiten sie intensiv mit dem Fraunhofer-Institut daran, anhand von Speichelproben verdächtige Gene zu identifizieren.
"In der Kombination beider Datensätze, Gehirn und Genetik, hoffen wir darauf, eine noch höhere Trefferquote zu erreichen und damit eine Basis für die Entwicklung eines einfachen Diagnoseverfahrens zu haben", fasst Friederici zusammen. "Wenn wir es so schaffen, beispielsweise im Zuge von Kinder-Vorsorgeuntersuchungen einen Großteil der betroffenen Kinder zu erfassen, ersparen wir ihnen nicht nur Leid in der Schule, sondern eröffnen jedem Kind die gleiche Chance auf eine erfolgreiche Ausbildung, auf Teilnahme in der Gesellschaft und ein zufriedenes Leben."