Dein ICH in MIR

Verschiedene neuronale Routen führen zum Verständnis unserer Mitmenschen

7. August 2015

Um zu verstehen, was andere Menschen denken und fühlen, nutzen wir zwei verschiedene Routen der sozialen Informationsverarbeitung im Gehirn. Mit einer neuen methodischen Herangehensweise, dem EmpaToM, können Wissenschaftler erstmals beide Wege parallel innerhalb einer Person erforschen. So können sie auch konkreten Zusammenhängen dieser elementaren sozialen Fähigkeiten auf den Grund gehen. Durch eine Kombination des EmpaToM mit MRT-Messungen konnte ein Forscherteam um Tania Singer am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften nun belegen, dass die beiden Routen parallel genutzt werden, und die jeweils aktivierten Gehirnnetzwerke genau lokalisieren. Beide Netzwerkkonfigurationen weisen jeweils Überlappungen mit bereits bekannten Netzwerken aus der Resting-State-Forschung auf.

Andere Menschen zu verstehen, zu erahnen, was sie denken, fühlen oder wie sie handeln werden, ist eine elementare Fähigkeit, die uns das Leben in größeren Sozialverbänden ermöglicht. Nach neuesten Erkenntnissen beschreibt die Wissenschaft zwei Wege, auf denen wir zu Erkenntnissen über unser Gegenüber gelangen können.

Ein affektiver Weg, vereinfacht unter dem Stichwort Empathie erfasst, meint die Fähigkeit die Gefühle anderer nachempfinden zu können. Ein zweiter Weg wird unter dem Begriff „Theorie of Mind (ToM)“ gefasst und bezieht sich auf die kognitive Fähigkeit, sich gedanklich in andere hineinzuversetzen und Vermutungen über deren Ansichten, Gedanken, Gefühle oder Vorstellungen anstellen zu können.
Dieser Annahme von zwei Routen des Verstehens anderer stand bisher jedoch eine eher schwache Datenlage gegenüber. So konnten keine hinreichenden Belege dafür gezeigt werden, dass beide Wege auch tatsächlich separat funktionieren. „Mit den bisher angewendeten Methoden war es möglich, sowohl die affektive Route als auch die kognitive zu untersuchen; und beides ist auch ausführlich erforscht worden. Aber es fehlte an einer Methode, die es ermöglicht, beide Wege innerhalb einer Person gleichzeitig zu untersuchen, obwohl in der Realität ja meistens beides zusammenkommt“, sagt Philipp Kanske, Wissenschaftler der Abteilung Soziale Neurowissenschaft und Mitautor.

Mit der in der Abteilung entwickelten neuen Untersuchungsmethode, die von den beteiligten Wissenschaftlern EmpaToM genannt wird –eine Verbindung von Empathie und Theorie of Mind (ToM) –, ist dies nun möglich. „EmpaToM ist, verkürzt ausgedrückt, eine Test-Aufgabe, die aus Videomaterial und dazugehörigen, genau angepassten Fragen besteht“, beschreibt Kanske. Die Studienteilnehmer sehen Gesprächsausschnitte, in denen verschiedene Erzähler von mehr oder weniger emotionalen Erlebnissen und Situationen aus ihrem Leben berichten. Der EmpaToM stellt somit reale Gesprächssituationen nach, in denen wir versuchen, unser Gegenüber zu verstehen und gegebenenfalls mit ihm mitfühlen. Die Studienteilnehmer beantworten nach jedem Video spezifische Fragen zu dem, was der Erzähler gedacht haben könnte und schätzen ein, wie sehr sie das Gefühl der Person aus dem Video teilen. Die Daten geben den Wissenschaftlern somit Aufschluss darüber, wie intensiv die Studienteilnehmer die affektive und kognitive Route zum Verstehen Anderer nutzten.
Um darüberhinaus die Frage beantworten zu können, ob die beiden Erkenntniswege tatsächlich separat existieren und auf eigenständigen neuronalen Netzwerken beruhen, haben die Forscher den EmpaToM mit Messungen im Magnetresonanztomographen (MRT) kombiniert. So war es möglich, während des Anschauens der Videos und des Beantwortens der Fragen zu messen, welche Gehirnnetzwerke bei den Studienteilnehmern jeweils aktiviert waren. Die Aktivierungsmuster zeigten, dass den beiden Pfaden tatsächlich völlig unterschiedliche Netzwerkkonfigurationen zugrunde liegen.

Die jeweiligen Aktivierungsmuster wiesen außerdem einen konkreten Zusammenhang zu den Daten der Verhaltensmessung auf: Je besser sich die Probanden gedanklich in ihr Gegenüber hineinversetzen konnten (ToM-Bedingung) oder je mehr Empathie sie berichteten, desto stärker war auch das jeweilige neuronale Netzwerk bei ihnen aktiviert.

Interessanterweise waren die beobachteten Netzwerkkonfigurationen in andere aus der Resting-State-Forschung bekannte Netzwerke eingebettet. Für die ToM-Bedingung stellten die Wissenschaftler eine Überlappung mit einem Netzwerk fest, welches im Zusammenhang mit der Erforschung des Tagträumens aufgefallen war. Dies verwundert nicht, denn das Tagträumen, das jeder mehr oder weniger ausgeprägt erlebt, ist ein Nachdenken über eigene innere Zustände und weist daher prinzipiell Parallelen zur ToM auf.

Bei der Empathie-Bedingung dagegen fanden die Forscher Überschneidungen mit dem sogenannten Aufgaben-Kontroll-Netzwerk. Dieses Netzwerk ist für die Steuerung unserer Aufmerksamkeit bedeutsam, um eine unmittelbare Verarbeitung äußerer Reize nach ihrer Wichtigkeit zu garantieren. Sowohl bei Empathie als auch bei Aufgabenkontrolle geht es also um eine schnelle Verarbeitung äußerer Reize mit unterschiedlicher Gewichtung bezüglich persönlicher Bedeutsamkeit.

„Hier kann die künftige Forschung ansetzen und das Zusammenspiel von Empathiefähigkeit mit ToM-Fähigkeit untersuchen“ meint Kanske, „also inwieweit ermöglicht beispielsweise eine ausgeprägte Empathiefähigkeit, den Anderen besser zu verstehen? Welcher dieser Prozesse ist besonders bedeutsam für soziales Verhalten, wie Hilfsbereitschaft? Oder auch inwiefern sind diese Fähigkeiten trainierbar, ab wann entwickeln Kinder diese Fähigkeiten und warum gibt es individuelle Unterschiede?“ Auch für die klinische Anwendungsforschung sind sowohl die Arbeit mit der neuen Methode als auch der wissenschaftliche Beleg der zwei Erkenntnisrouten beim Verstehen anderer Menschen interessant. Kanske ergänzt: „Denkbar wäre die Entwicklung von spezifischeren Diagnoseverfahren und passgenaueren therapeutischen Ansätzen, z.B. für Patienten aus dem Autismusspektrum oder solchen mit Psychopathie.“

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