Unglaublich formbar: Lesenlernen krempelt Gehirn selbst bei Erwachsenen tiefgreifend um

22. Mai 2017

Lesen ist eine derart junge kulturelle Errungenschaft, dass im Gehirn noch kein eigener Platz für sie vorgesehen ist. Während wir lesen lernen, werden daher Hirnregionen umfunktioniert, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des MPI für Psycholinguistik in Nijmegen haben herausgefunden, dass sich das Gehirn dabei  weitaus grundlegender verändert als bisher angenommen: Selbst evolutionär alte, tief im Gehirn verborgene Kerne passen sich der neuen Herausforderung an. Zu diesen Erkenntnissen gelangte das internationale Forscherteam anhand einer großangelegten Studie in Indien, in der Analphabetinnen sechs Monate lang lesen und schreiben lernten.

Da Lesen evolutionär gesehen so neu ist, kann es im Gehirn kein „Leseareal“ geben. Im Zuge des Lesenlernens muss es daher zu einer Art Recyclingprozess im Gehirn kommen: Hirnareale, die eigentlich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichter konzipiert waren, werden nun durch die Fähigkeit besetzt, Buchstaben in Sprache zu übertragen. Dadurch entwickeln sich einige Regionen unseres visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen unserem Seh- und Sprachsystem.

„Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die bereits dafür bekannt war, sich schnell an neue Herausforderungen anzupassen“, so Studienleiter Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Das internationale Forscherteam hat nun gemeinsam mit indischen Wissenschaftlern des Center of Bio-Medical Research (CBMR) Lucknow und der Universität Hyderabad erstmals in einer umfassenden Studie mit erwachsenen Analphabetinnen beobachtet, was sich im erwachsenen Gehirn verändert, während wir lesen und schreiben lernen – und Erstaunliches herausgefunden: Anders als bisher angenommen, werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen. Im Vergleich zur verhältnismäßig sehr jungen Schrift des Menschen verändern sich also Regionen, die evolutionär gesehen recht alt sind - und selbst bei Mäusen und anderen Säugetieren bereits vorhanden sind.

„Wir haben beobachtet, dass die sogenannten Colliculi superiores als Teile des Hirnstamms und das sogenannte Pulvinar im Thalamus ihre Aktivitätsmuster zeitlich enger an Sehareale auf der Großhirnrinde koppeln“, so Michael Skeide, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und Erstautor der zugrundeliegenden Studie, die jetzt im renommierten Fachmagazin Science Advances veröffentlich wurde. „Die Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut von visuellen Reizen herauszufiltern noch bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen.“

Das Interessante dabei: Je stärker sich die Signale der Hirnregionen einander angeglichen hatten, desto besser waren die Lesefähigkeiten bereits ausgeprägt. „Wir gehen deshalb davon aus, dass diese beiden Hirnsysteme mit zunehmenden schriftsprachlichen Fähigkeiten besser zusammenarbeiten“, erklärt der Neuropsychologe weiter. „Auf diese Weise können geübte Leser vermutlich effizienter durch Texte navigieren.“

Großangelegte Studie mit  Analphabetinnen in Indien

Untersucht hat das interdisziplinäre Forscherteam diese Zusammenhänge in Indien, einem Land mit einer Analphabetenrate von etwa 39 Prozent. Hier sind es vor allem die Frauen, denen der Zugang zu Schulbildung und damit zum Lesen und Schreiben verwehrt bleibt, sodass an der Studie ausschließlich Frauen teilnahmen, alle im Alter zwischen 24 und 40 Jahren. Ein Großteil der Teilnehmerinnen konnte zu Beginn des Trainings kein einziges Wort in ihrer Sprache, dem Hindi, entziffern. Hindi, der Landessprache Indiens, liegt das sogenannte Devanagari zugrunde, eine Schrift, deren komplexe Zeichen häufig nicht nur für einzelne Buchstaben, sondern auch für ganze Silben oder auch Wörter stehen.

Nach sechs Monaten Unterricht erreichten die Teilnehmerinnen bereits ein Niveau, das sich ungefähr mit dem einer Erstklässlerin vergleichen lässt. „Dieser Wissenszuwachs ist bemerkenswert“, so Studienleiter Huettig. „Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis.“

Neue Hinweise auf Ursachen von Lese-Rechtschreib-Störung

Prinzipiell habe diese Studie auch in Mitteleuropa stattfinden können. Tatsächlich sei hier jedoch das Thema Analphabetismus so tabubehaftet, dass es sehr schwierig gewesen wäre, überhaupt Teilnehmer zu finden. Doch auch in Indien warteten zahlreiche Herausforderungen auf die Wissenschaftler: Um auszuschließen, dass soziale Faktoren die Ergebnisse verfälschen, kamen für sie nur Studienteilnehmer der gleichen Sozialklasse aus zwei benachbarten Dörfern in Frage. Auch die Fahrten in die drei Stunden entfernte Stadt Lucknow mussten organisiert werden, um dort die Hirnscans durchführen zu können.

Die erstaunlichen Lernerfolge der Studienteilnehmer sind nicht nur ein hoffungsvolles Signal an erwachsene Analphabeten. Sie werfen auch ein neues Licht auf mögliche Ursachen der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Bisher wurden Fehlfunktionen des Thalamus, die zu grundlegenden Defiziten in der visuellen Aufmerksamkeit führen könnten, als eine mögliche angeborene Ursache von LRS diskutiert. „Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetraining so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden“, so Skeide.

Es könnte sein, dass Betroffene nur deshalb Auffälligkeiten im Thalamus zeigen, weil ihr visuelles System weniger trainiert ist. Das bedeutet, dass diese Auffälligkeiten im Thalamus nur dann als angeborene Ursache infrage kommen, wenn sie sich schon vor der Einschulung zeigen. „Genau das wollen wir nun in einer großangelegten Studie herausfinden, in der wir Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche über viele Jahre hinweg beobachten“, fügt Huettig hinzu.

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