100 Jahre Kartierung des Gehirns: Von Brodmann zur Hochfeld-Kernspintomographie

Neues Buch beleuchtet innovative Ansätze struktureller Bildgebung in der Neurowissenschaft

2. August 2013

Das Übersichtswerk von Stefan Geyer und Robert Turner ist ganz frisch aus dem Druck. Es liefert einen faszinierenden Überblick über die Entwicklung struktureller bildgebender Verfahren in der Neurowissenschaft – von Brodmanns einstiger mikroskopischer Kartierung der menschlichen Großhirnrinde an toten Gehirnen bis zu neuesten Möglichkeiten, die Zusammenhänge zwischen Mikrostruktur und Funktion im lebenden menschlichen Gehirn abzubilden.

Korbinian Brodmanns 1909 erschienene Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde wurde weltberühmt und bildete den Ausgangspunkt für wegweisende Forschungen. Brodmanns Kartierung der Großhirnrinde gilt nach wie vor als entscheidender Schritt zur Erforschung der strukturellen Module (Areale) der menschlichen Hirnrinde und ihrer funktionellen Eigenschaften. Vergessen dagegen sind andere wissenschaftliche Ansätze zur Kartierung der Großhirnrinde wie die des Forscherehepaares Cécile und Oskar Vogt. Stefan Geyer begründet: „Ihre Werke wurden niemals ins Englische übersetzt und sind infolgedessen im internationalen Wissenschaftsraum nicht präsent“.

Dabei beinhaltet Brodmanns Kartierungsmethode trotz aller Bekanntheit und Plausibilität ein fundamentales Problem: Da der Forscher seine Gehirnabbildungen und Kartierungen der Arealgrenzen im Gehirn nach Färbung und Ansicht unter dem Mikroskop selbst zeichnete, stellten sie seine subjektive Interpretation dar. Demnach lautete die Argumentation vieler Hirnforscher in der Folgezeit, Brodmanns Methode „entspreche nicht den Grundsätzen objektiver Wissenschaft“, erzählt Geyer.

Erst im Zuge der neueren wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten – insbesondere mit der rasanten Entwicklung der Magnetresonanztomographie (MRT)-Technik und computergestützter Bildverarbeitung – gerieten die Ansätze von Brodmann und den Vogts wieder in das Blickfeld der Wissenschaftler. „Nun rückte plötzlich eine Objektivierbarkeit von Hirn-Arealgrenzen und vor allem ihre Darstellung am lebenden Gehirn in den Bereich des Möglichen“, betonen Turner und Geyer, Direktor und Forschungsgruppenleiter am Leipziger MPI. Sie nahmen die neuen technischen Möglichkeiten zum Anlass, alte Ansätze wie die von Brodmann, Vogt oder von Economo und Koskinas wiederzubeleben.

„Schon vor gut 100 Jahren diskutierten die Forscher, welche Technik wohl langfristig valider sei. Berühmt geworden ist Brodmanns Methode, Unterschiede in der Struktur von Zellen im Gehirn Verstorbener zu kartieren. Heute haben wir nun die Chance, lebende Gehirne auf ihre strukturellen und funktionellen Zusammenhänge hin zu untersuchen“, erklärt Geyer. Bei der MRT-Technik werden die Hirnareale allerdings nicht wie bei Brodmann durch Darstellung der Zellen sichtbar gemacht, sondern die Visualisierung gelingt über die Markscheiden, welche einen Teil der Zellfortsätze umgeben – „und damit interessanterweise über den ursprünglichen Vogt’schen Ansatz.“

Beide Autoren fanden es spannend und notwendig, die vergessenen Forschungsansätze und Ergebnisse aus den Archiven zu holen und mit dem vorliegenden Buch auch der englischsprachigen Forschergemeinschaft näher zu bringen. Das Buch resultiert aus jahrelanger Erfahrung und Expertise und führt den Leser geschickt über die einzelnen Entwicklungsstufen der Kartierung des menschlichen Gehirns bis zur hochaktuellen Methodik der MRT. Mit seinem klassischen, systematischen Aufbau und den faszinierenden Illustrationen hat es nahezu Lehrbuchcharakter und gibt einen verlässlichen Überblick zur wissenschaftlichen Entwicklung der strukturellen Hirnkartierung. Es endet mit dem in-vivo-Ansatz, der erst durch die Hochfeld-MRT möglich wurde: wesentlich vorangetrieben und umgesetzt am Leipziger MPI.

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