Aufbruch ins Gehirn

Trotz seiner unglaublichen Komplexität verliert das Gehirn langsam sein Geheimnis. Gemeinsam stellt sich die Hirnforschung den großen Fragen: Wie finden Bilder, Melodien und Düfte ihren Weg in die graue Masse des Gehirns? Wo werden der Geruch von Thymian, der Gesang einer Nachtigall, die Farben des Sonnenuntergangs, die Poesie eines Textes konserviert? Wie denken wir? Wie reden wir? Und wie handeln wir?

Im Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig suchen Forscher - von Linguisten und Psychologen bis zu Neurologen und Physikern - mit modernen bildgebenden Methoden wie der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, der Magnetenzephalographie und der Elektroenzephalographie nach Antworten. Erst seit wenigen Jahren erlauben diese "Fenster zum Gehirn" Einblicke in weiße und graue Substanz, während wir denken und handeln und fühlen. Zudem gelten die Methoden als ungefährlich. Röntgenstrahlen oder Nadelstiche müssen die Versuchspersonen nicht fürchten.

Nach dem Konzept der kognitiven Neurowissenschaften sollen so die Beziehungen zwischen geistigen Funktionen und den zugrunde liegenden Hirngebieten aufgeklärt werden. Kein Verhalten ohne neuronale Basis - das ist das Credo des Instituts im Unterschied zur "klassischen" Psychologie, die Informationsverarbeitung ohne den Blick auf die "Hardware" im Kopf untersucht. Im MPI geht es vor allem um das "mind mapping", also die Zuordnung von Funktionen zu einzelnen Strukturen des Gehirns. Dieses Ziel hat Tradition in Deutschland. Schon die Hirn-Pioniere Cecile und Oskar Vogt sowie Korbinian Brodmann fertigten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten detaillierten "architektonischen" Karten der Großhirnrinde - auf der Basis mikroskopischer Präparate. Heute ist klar: Die optisch homogen wirkende Nervenmasse besteht aus ineinander fließenden Gebieten, die bei verschiedenen Leistungen in Form neuronaler Netzwerke unterschiedlich aktiv sind. Dabei gibt es Hierarchien und Spezialisierungen - einige Gebiete des Verbunds sind für bestimmte Aufgaben wichtiger als andere.

Hinweise darauf lieferten noch vor Jahren ausschließlich Patienten mit konkreten Hirnschäden. Dank bildgebender Verfahren können die Forscher auch die Gehirne gesunder Menschen in Aktion beobachten und sie mit den Daten der Kranken vergleichen. Deshalb gehören zu den Testpersonen im Leipziger MPI sowohl Patienten aus der benachbarten Tagesklinik für kognitive Neurologie als auch Gesunde aller Altersstufen - vom Kleinkind bis zum Greis. Das ist wichtig, weil sich Funktion und Anatomie des Gehirns im Laufe des Lebens verändern können.

Die meisten Studien der MPI-Forscher fußen auf Erkenntnissen, den Paradigmen, der experimentellen Psychologie. Tage-, zuweilen wochenlang zerbrechen sich die Wissenschaftler den Kopf, wie sie einen Versuch gestalten können. Denn während das Gehirn der Testpersonen etwa im Magnetresonanz-Tomographen förmlich überwacht wird, dürfen sie nicht mehr bewegen als die Finger, um einen Knopf zur Beantwortung einer Frage zu drücken. Ansonsten verwackeln die Aufnahmen. Und so lösen die Testpersonen scheinbar lächerlich einfache Aufgaben - scheinbar! Um Sprachprozesse zu entschlüsseln, sollen sie beispielsweise auf grammatische Fehler in einem gehörten Satz achten. Doch die Simplizität hat auch aus anderen Gründen Methode: Wer als Experimentator seine Versuche nicht kritisch abspeckt, verliert sich im neuronalen Irrgarten mit Abermillionen parallelen Prozessen. Und erfährt nichts über das Gehirn.

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