Forschungsbericht 2023

Studie 1: Hirnentwicklung formt den frühen Lauterwerb

Studie 2: Ich sehe was, was du noch siehst...

   

  


Hirnentwicklung formt den frühen Lauterwerb

Das Gehirn von Babys entwickelt sich während der ersten Lebensjahre stark. Nach der Geburt ist die Hirnaktivität von Babys noch sehr langsam. Schnelle Hirnaktivität, die für die Verarbeitung von Sprachlauten notwendig ist, reift erst allmählich heran. Wie schaffen es Babys scheinbar mühelos Sprache zu lernen, während sich ihr Gehirn noch entwickelt?

Jede Sprache besteht aus einer einzigartigen Kombination von Lauten, die auch Phoneme genannt werden. Phoneme unterscheiden zwischen Wortbedeutungen: Im Englischen gibt es beispielsweise das Phonem "th", welches etwa das Wort „three“ („drei“) vom Wort „tree“ („Baum“) unterscheidet. Im Deutschen existiert dieser Unterschied dagegen nicht (die Anfangslaute von Tee und Thema klingen gleich). Babys sind bereits im ersten Lebensjahr in der Lage, die Phoneme ihrer Muttersprache zu erkennen. Dies ist bemerkenswert, denn Phoneme im Sprachsignal sind eigentlich zu kurz für die langsame Hirnaktivität von Babys. Wie schaffen es Babys trotzdem, auch kurze Laute zu verarbeiten?

Forscher*innen des Kindersprachlabors am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften fiel auf, dass einzelne Phoneme nur etwa 50 Millisekunden dauern. Allerdings verändern sich manche Eigenschaften der Sprachlaute wesentlich langsamer: Es treten häufig mehrere Laute nacheinander auf, die in einer Eigenschaft identisch sind. Zum Beispiel besteht oft ein ganzes Wort (z.B. „Bälle“) aus stimmhaften Phonemen, also solchen, bei denen die Stimmritze im Kehlkopf in Schwingung gerät. In unserer aktuellen Studie haben wir deshalb untersucht, ob das langsame Babygehirn schnell genug sein könnte, solche konstanten Merkmale von Phonemen aufzuspüren und zu verarbeiten.

Was haben wir untersucht?

Wir haben Kindern im Alter von 3 Monaten bis 5 Jahren eine Kindergeschichte auf Deutsch und eine andere Kindergeschichte auf Französisch vorgespielt. Während des Experiments haben wir ein Elektroenzephalogram (EEG) abgeleitet, um die Hirnreaktion der Kinder auf die Sprachlaute innerhalb der Geschichten zu messen. Wir haben dann eine neuartige Analysemethode eingesetzt, die es uns ermöglicht zu messen, wie gut Kinder die Phoneme in beiden Sprachen verarbeiten. Dazu analysieren wir, wie beständig die Hirnreaktion auf unterschiedliche Phoneme ist. Wenn das kindliche Gehirn bei jedem Auftreten eines Phonems ähnlich reagiert, gehen wir davon aus, dass das Kind dieses Phonem erkennt.

Und was kam dabei heraus?

Wir finden eine allmähliche Entwicklung der neuralen Reaktionen auf die Phoneme der Muttersprache innerhalb der ersten 5 Lebensjahre. Bemerkenswert dabei ist die Feststellung, dass Babys zunächst jene Lautmerkmale erwerben, die über mehrere Phoneme hinweg konstant sind. Diese können auch mit Hilfe von langsamer Hirnaktivität verarbeitet werden. Kurzlebigere Lautmerkmale lernen Kinder erst nach und nach, wobei die kürzesten Merkmale zuletzt erworben werden.

Was bedeutet das?

Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass die Entwicklung der Hirnaktivität den frühen Spracherwerb beeinflusst. Die Geschwindigkeit der kindlichen Hirnaktivität bestimmt, wie schnell die Informationen sind, die Kinder verarbeiten können. Das Babygehirn mag nach der Geburt noch langsam sein – ist aber schnell genug, um den Einstieg in die Muttersprache zu ermöglichen. In der Praxis sehen wir diesen Einfluss der langsamen Hirnaktivität zusätzlich an der Art wie Erwachsene mit Kindern sprechen. Erwachsene passen sich beispielsweise an die langsame Sprachverarbeitung ihrer Babys an, indem sie langsamer mit ihnen sprechen. Damit bietet unsere Forschungsarbeit neue Einblicke in die komplexen Prozesse der frühkindlichen Sprachentwicklung und unterstreicht die bedeutende Rolle, die die Entwicklung der Hirnaktivität dabei spielt.


Ich sehe was, was du noch siehst...

Wenn Sie schon mal mit ihrem Kind verstecken gespielt haben, haben Sie vielleicht bemerkt, dass scheinbar für die Kleinen der Grundsatz gilt: „Wenn ich dich nicht sehe, kannst du mich auch nicht sehen!“ Kleine Kinder scheinen noch nicht in der Lage zu sein, eine andere Sichtweise als ihre eigene einzunehmen. Sie schließen von sich auf andere, bis sie etwa vier Jahre alt sind. Bei Säuglingen könnte das allerdings ganz anders sein...

In unserem alltäglichen sozialen Miteinander spielt die Fähigkeit, die Gedanken, das Wissen und die Gefühle anderer Menschen zu verstehen, eine entscheidende Rolle. Wir sind in der Lage, uns schnell und scheinbar mühelos in die Perspektive unserer Mitmenschen zu versetzen. Bislang ging man davon aus, dass sich diese bemerkenswerte Fähigkeit bei Kindern erst ab einem Alter von etwa vier Jahren entwickelt und es jüngeren Kindern schwerfällt, verschiedene Sichtweisen zu berücksichtigen. Neuere Forschungsergebnisse deuten aber darauf hin, dass bereits Säuglinge über diese Fähigkeit verfügen. Wie schaffen sie das bloß?

Was haben wir untersucht?

Wir haben uns gefragt, wie Säuglinge die Sichtweise einer anderen Person erfassen und übernehmen, obwohl sich diese Fähigkeit normalerweise erst ab einem Alter von vier Jahren entwickelt. Durch vorherige Forschung wissen wir bereits, dass Säuglinge früh im Leben dazu neigen, der Blickrichtung anderer Menschen zu folgen. Sie können auch Objekte, auf die andere Personen ihre Aufmerksamkeit richten, leichter verarbeiten und sich später besser daran erinnern.

Um herauszufinden, ob die Perspektive einer anderen Person die Art und Weise beeinflusst, wie das Gehirn Objekte verarbeitet, haben wir ein Elektroenzephalogramm (kurz: EEG) von Säuglingen und Erwachsenen aufgezeichnet. In unserem Experiment wurden den Proband*innen Videos gezeigt, in denen eine Person ein "flickerndes" Objekt betrachtete. In einer Version des Videos verschwand das Objekt dann in einem Tunnel, wodurch es sowohl für die Proband*innen als auch für die Person im Video nicht mehr sichtbar war. In einer anderen Version des Videos rollte das Objekt stattdessen hinter eine Wand, die nur die Sicht der Proband*innen, nicht aber die der Person im Video blockierte. So wollten wir testen, ob die Sicht der anderen Person einen Einfluss auf die Objektverarbeitung hat, selbst wenn das Objekt für die Proband*innen nicht mehr zu sehen ist.

Um dies zu untersuchen, flickerten wir das Objekt in einem bestimmten Rhythmus, nämlich viermal pro Sekunde abwechselnd hell und dunkel. Wenn wir etwas sehen, das in einem bestimmten Rhythmus flickert, schwingt unser Gehirn genau im gleichen Rhythmus mit. Diese Schwingungen verschwinden wieder, sobald wir das flickernde Bild oder Objekt nicht mehr sehen. Wir wollten so testen, ob das Gehirn von Säuglingen länger mitschwingt, wenn eine andere Person das Objekt weiterhin sehen konnte, selbst wenn es für die Säuglinge selbst durch die Wand verdeckt war.

Und was kam heraus?

Bei der Analyse der EEG-Daten der Säuglinge haben wir genau diesen spannenden Unterschied zwischen den Wand- und Tunnel-Videos gefunden: Wir haben festgestellt, dass das Gehirn nur in der Wandbedingung länger mitschwingt – also dann, wenn die Person im Video das Objekt noch weiterhin sehen kann. Das Besondere daran ist, dass diese Schwingungen in einem Zeitfenster auftreten, in dem das Objekt bereits vollständig verdeckt ist. Dies legt nahe, dass unser Gehirn mit der anderen Person „weiterschwingt“, selbst wenn wir das flackernde Objekt gar nicht mehr sehen können, sondern nur noch die andere Person es sieht. Das weist darauf hin, dass wir das, was die andere Person sieht, so verarbeiten, als würden wir es selbst sehen. Uns bleibt sozusagen das Objekt weiter „vor Augen“, wenn die Person im Video das flackernde Objekt immer noch sehen kann. Dies war nicht der Fall, wenn die andere Person das Objekt auch nicht mehr sehen konnte, also wenn ihre Sicht durch den Tunnel blockiert war oder wenn keine andere Person anwesend war, die das Objekt hätte sehen können (Kontrollbedingung). Das heißt, nur wenn eine andere Person das Objekt weiterhin sieht, flickert dieses Objekt in unserem Kopf weiter.

Und dies war nicht nur bei Säuglingen der Fall: Wir haben Erwachsenen die gleichen Videos gezeigt und auch bei ihnen, schwang das Gehirn länger mit, wenn die andere Person das Objekt noch sehen konnte. Das bedeutet, dass auch Erwachsenen etwas länger vor Augen zu bleiben scheint, wenn jemand anderes es weiterhin sehen kann.

Und was bedeutet das?

Insgesamt liefern die Ergebnisse dieser Studie spannende Einblicke in die Art und Weise, wie unsere Wahrnehmung von anderen Menschen beeinflusst wird. Es scheint, dass wir das Objekt so verarbeiten, als würden wir es weiterhin sehen können. Was an diesen Ergebnissen besonders faszinierend ist, ist, dass dieser Einfluss schon früh in der Entwicklung vorhanden und bereits bei Kindern aktiv ist. Aber er hört nicht einfach mit dem Erwachsenwerden auf, sondern bleibt weiterhin bestehen. Dieser Mechanismus würde es uns ermöglichen, Dinge, die andere sehen, so schnell und einfach zu verarbeiten, als würden wir sie selbst sehen, ohne dass wir sie uns auf mühevolle Art und Weise erschließen müssen. Das wiederum könnte es schon Säuglingen möglichen, zu verarbeiten was andere sehen können und die Perspektive von anderen zu berücksichtigen, selbst wenn diese sich von ihrer eigenen unterscheidet.

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