Forschungsbericht 2021
Studie 1: Hilft kindgerichtete Sprache Säuglingen bei der Sprachverarbeitung?
Studie 2: Wie sich Selbstkontrolle im Gehirn entwickelt
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Hilft kindgerichtete Sprache Säuglingen bei der Sprachverarbeitung?
Säuglinge sind sehr sozial und interagieren mit ihren Mitmenschen, noch bevor sie anfangen zu sprechen. Wenn Erwachsene mit Säuglingen sprechen, passen sie sich den Sprachvoraussetzungen des Säuglings an: Unsere Stimme wird dann häufig höher und wir sprechen manche Wörter anders aus als im Gespräch mit Erwachsenen. Fast alle Erwachsenen nutzen intuitiv diese sogenannte „kindgerichtete Sprache“ in der Kommunikation mit Säuglingen.
Sprechen lernen ist eine echte Mammutaufgabe und uns interessiert besonders, wie „kindgerichtete“ Sprache Säuglingen beim Spracherwerb helfen kann. Ein wichtiger erster Schritt beim Spracherwerb ist, dass Säuglinge lernen müssen, einzelne Wörter im kontinuierlichen Sprachsignal zu erkennen. Hierfür müssen die Säuglinge die Wortanfänge (d.h. die erste Silbe) der einzelnen Wörter identifizieren. Vorangegangene Studien zeigen, dass Säuglinge dazu den Rhythmus der Silben benutzen können: Gesprochene Sprache besteht aus einem Wechsel von betonten Silben, die etwas lauter und höher gesprochen werden, und unbetonten Silben. Die besonders hervorstechenden betonten Silben tauchen dabei häufig an Wortanfängen auf und können Säuglingen so einen Hinweis auf den Beginn eines neuen Wortes geben. Ein Beispiel dafür ist in Abbildung 1 zu sehen.
Können Säuglinge die betonten Silben in der Interaktion mit ihren Müttern dann besser verarbeiten, wenn diese „kindgerichtet“ mit ihnen sprechen? Und wie wirkt sich eine „erwachsenengerichtete“ Sprache im Vergleich dazu aus? Um diese Frage zu beantworten haben Forscher*innen aus dem Labor für Kindersprachforschung und der Forschungsgruppe „Entwicklung sozialer Kognition“ einen bestehenden Datensatz gemeinsam neu analysiert.
Was haben wir gemacht?
In der hier vorgestellten Studie wurde bei 9 Monate alten Säuglingen untersucht, wie sie die Sprache ihrer Mutter in natürlichen Interaktionen verarbeiten. Dafür haben wir Müttern Objekte gegeben, welche die Säuglinge noch nie gesehen hatten, und sie gebeten, ihren Kindern diese unbekannten Objekte zu beschreiben. Eine Besonderheit dabei war, dass wir die Mütter gebeten haben, die Hälfte der Objekte so zu beschreiben, wie sie auch im Alltag mit ihren Säuglingen sprechen. Das heißt, die Mütter haben „kindgerichtete“ Sprache benutzt. Für die zweite Hälfte der Objekte wurden die Mütter gebeten, sich vorzustellen, sie würden die Objekte einem anderen Erwachsenen beschreiben. Während der Objektbeschreibungen haben wir die Hirnaktivität der Säuglinge mithilfe der Methode der Elektroenzephalographie (EEG) gemessen (Abbildung 2). Dabei messen wir die Sprachverarbeitung der Säuglinge, indem wir schauen, wie sich die Hirnaktivität an das Sprachsignal anpasst. Je stärker die Hirnaktivität mit dem Sprachsignal übereinstimmt, desto besser ist die Verarbeitung des Sprachsignals im Gehirn.
Was kam heraus?
Wir konnten belegen, dass Mütter bei der Benutzung „kindgerichteter“ Sprache die betonten Silben besonders verdeutlichen, wodurch der Unterschied zwischen betonten und unbetonten Silben stärker hervorgehoben wurde als in „erwachsenengerichteter“ Sprache. Dieser Unterschied half den Säuglingen in der Sprachverarbeitung. Denn die gemessene Hirnaktivität der Säuglinge zeigte, dass diese die betonten Silben in „kindgerichteter“ Sprache besser verarbeiteten als die betonten Silben in „erwachsenengerichteter“ Sprache (Abbildung 3). Für die Verarbeitung von unbetonten Silben fanden wir dagegen keinen Unterschied in der Hirnaktivität in Reaktion auf „kindgerichtete“ und „erwachsenengerichtete“ Sprache.
Was bedeutet das?
Mit den Ergebnissen können wir erstmals belegen, dass Säuglinge die akustischen Informationen dann besser verarbeiten können, wenn sie in „kindgerichteter“ Sprache vermittelt werden. Das hilft ihnen dann dabei, die Wortanfänge in kontinuierlicher Sprache zu finden und erleichtert die Verarbeitung im Gehirn.
Eltern, die also in „kindgerichteter“ Sprache mit ihren Kindern interagieren, unterstützen so deren Spracherwerb. Oft intuitiv erleichtern sie ihnen so, neue Wörter zu lernen. Für die Nutzung „erwachsenengerichteter“ Sprache konnten wir keinen solchen Vorteil für den Spracherwerb nachweisen.
Übrigens müssen sich Eltern keine Sorgen darüber machen, dass Kinder, die viel „kindgerichtete“ Sprache hören, am Ende falsch sprechen lernen könnten. Denn unsere intuitiv genutzte „kindgerichtete“ Sprache verändert sich automatisch, wenn Kinder älter werden und höhere Sprachkompetenzen aufweisen. Unsere Art zu sprechen passen wir also oft bereits intuitiv optimal auf die Bedürfnisse von Kindern unterschiedlichen Alters an.
Wie sich Selbstkontrolle im Gehirn entwickelt
Manchmal können wir dem inneren Schweinehund einfach nicht widerstehen, die Verlockung ist zu groß, der Impuls zu stark. Und ehe wir uns versehen, ist die Familienpackung Gummibärchen leer oder unser Warenkorb prall gefüllt. Vor allem kleine Kinder haben Schwierigkeiten ihre Impulse zu kontrollieren. Doch warum ist das so und wie entwickelt sich Selbstkontrolle im Gehirn?
Als Erwachsene besitzen wir die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken, Emotionen und unser Verhalten zu kontrollieren. Wir haben eine Art “inneres Stopp-Schild”, das uns innehalten lässt und es uns ermöglicht, auch langfristige Ziele zu erreichen. Kinder beginnen, diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle etwa in ihrem vierten Lebensjahr zu entwickeln. Sie lernen, auf bestimmte Dinge zu warten und können sich bereits über einen längeren Zeitraum auf nur eine einzige Sache konzentrieren. Aus vorangegangenen Studien wissen wir bereits viel darüber, welche Strukturen im Gehirn für die Selbstkontrolle im Erwachsenenalter genutzt werden. Unklar ist bislang jedoch, ob die Reifung dieser Hirnregionen auch die frühkindliche Entwicklung von Selbstkontrolle unterstützt. Dieser Frage sind wir in unserer Studie nachgegangen.
Was haben wir untersucht?
In unserer Studie haben wir die frühe Entwicklung der Selbstkontrolle im Alter zwischen 3 und 4 Jahren mit Hilfe von zwei unterschiedlichen Spielen untersucht:
Im ‘Bär/Drache’-Spiel wurden die Kinder zunächst mit zwei Figuren bekannt gemacht: Dem “lieben” Bären und dem “ungezogenen” Drachen. Während des Spiels erhielten die Kinder dann verschiedene Anweisungen von den beiden Figuren, wie “Klatsch in die Hände!” oder “Berühre deine Nase!” Diese Anweisungen sollten sie jedoch nur dann umsetzen, wenn der “liebe” Bär sie äußerte, nicht aber, wenn der Drache sie aufforderte. Mit dieser Aufgabe erfassten wir die Fähigkeit der Kinder, bestimmte Handlungen zu unterdrücken.
In einer weiteren Aufgabe wurden die Kinder an einen Tisch gesetzt, auf dem eine kleine Portion ihrer bevorzugten Süßigkeit (Gummibärchen oder Schokoriegel) stand. Eine größere Portion der Süßigkeit befand sich in einer verschlossenen, aber durchsichtigen Schachtel daneben. Die Versuchsleiterin teilte den Kindern mit, dass sie jetzt für eine kurze Zeit den Raum verlassen müsse: “Wenn du wartest, bis ich zurückkomme, ohne die Süßigkeit zu essen, bekommst du die große Portion!” Mit dieser Aufgabe, die auch als “Marshmallow-Test” bekannt ist, erfassten wir die Fähigkeit von Kindern, einen emotionalen Impuls über längere Zeit hinweg zu unterdrücken.
Neben der Fähigkeit, emotionale Impulse und Handlungen zu unterdrücken, haben wir auch noch den Reifezustand bestimmter Hirnstrukturen mit Hilfe einer Messung im Magnetresonanztomographen (MRT) ermittelt.
Und was kam heraus?
Wie erwartet, schnitten die Vierjährigen in beiden Aufgaben deutlich besser ab als die Dreijährigen. Dies zeigt noch einmal eindrucksvoll, welche wichtigen Meilensteine in der Selbstkontrolle im vierten Lebensjahr gemeistert werden. Diese Entwicklung in der Selbstkontrolle ging mit der Reifung eines bestimmten Netzwerks von Hirnstrukturen einher – dem kognitiven Kontrollnetzwerk (in der Abbildung in Gelb dargestellt). In Erwachsenen wurde das kognitive Kontrollnetzwerk bereits auf vielfältige Weise mit Selbst- und Aufmerksamkeitskontrolle in Zusammenhang gebracht. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass dieses Netzwerk im Alter zwischen 3 und 4 Jahren reift und dass diese Reifung die frühkindliche Entwicklung der Selbstkontrolle unterstützt.
Interessanterweise fanden wir jedoch auch, dass unsere unterschiedlichen Aufgaben zur Selbstkontrolle (also: ‘Bär/Drache’-Aufgabe und Marshmallow-Test) mit unterschiedlichen Regionen innerhalb des kognitiven Kontrollnetzwerks in Verbindung stehen. Während Kinder, die in der ‘Bär/Drache’-Aufgabe gut abschnitten, vor allem eine Reifung im präfrontalen Kortex zeigten (in der Abbildung in Blau dargestellt), war der Marshmallow-Test eher mit Reifungsprozessen im Supramarginalen Gyrus verbunden (in der Abbildung in Rot dargestellt). Diese unterschiedlichen Komponenten ließen sich auch in den Faserverbindungen zwischen den Regionen nachweisen. Aus vorangegangenen Studien wissen wir, dass der präfrontale Kortex im Gehirn insbesondere für die Planung und Steuerung von Handlungen zuständig ist, während der Supramarginale Gyurs eher mit der Steuerung von Aufmerksamkeit verbunden ist.
Und was bedeutet das?
Unsere Studie zeigt, dass die Meilensteine in der Entwicklung der Selbstkontrolle in der frühen Kindheit mit der Reifung des kognitiven Kontrollnetzwerks verbunden sind, also dem Netzwerk, das bereits in Erwachsenen im Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Selbstkontrolle gefunden wurde. Das deutet darauf hin, dass bereits kleine Kinder auf ähnliche Prozesse zurückgreifen, wenn es darum geht, ihre Gedanken und ihr Verhalten zu steuern. Im Kleinkindalter könnte somit eine graduelle Entwicklung ihren Anfang nehmen, deren Ergebnis wir in der voll entwickelten Selbstkontrolle im Erwachsenenalter beobachten. Dieser Befund ist wichtig, denn er zeigt uns, dass wir bereits in sehr jungen Jahren auf diese wichtige Fähigkeit Einfluss nehmen könnten.
Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass Forscher*Innen bei der Erfassung von Selbstkontrolle in der frühen Kindheit ein stärkeres Augenmerk auf die Art der Aufgabe legen sollten. Wir konnten sehen, dass die Reifung unterschiedlicher Komponenten des kognitiven Kontrollnetzwerks mit unterschiedlichen Aufgaben der Selbstkontrolle verbunden ist. Das deutet darauf hin, dass mit diesen Aufgaben möglicherweise auch unterschiedliche Dimensionen der Selbstkontrolle erfasst werden. Während Kinder im Marshmallow-Test ihre emotionalen Impulse unterdrücken müssen, umfassen Aufgaben wie ‘Bär/Drache’ eher das Unterdrücken von (automatisierten) motorischen Verhaltensreaktionen. Auch wenn wir aus vielen Untersuchungen mit Kleinkindern wissen, dass sich beide Fähigkeiten in ähnlichen zeitlichen Verläufen über die Lebensspanne entwickeln, beinhalten sie doch offensichtlich recht unterschiedliche kognitive Prozesse. In der Literatur gibt es dafür auch bereits einen Begriff: Man spricht von “heißen” (engl. hot) und “kalten” (engl. cold) Prozessen der Selbstkontrolle. In unseren neuen Studien möchten wir diesen Prozessen weiter auf den Grund gehen.