Forschungsbericht 2022

  

Studie 1: Voraussetzungen für die Entwicklung des Wortschatzes

Studie 2: Dem kindlichen Spracherwerb auf der Spur

  

  


Voraussetzungen für die Entwicklung des Wortschatzes

Scheinbar mühelos haben Kinder mit etwa 12 Monaten gelernt, ihre ersten Wörter zu sprechen; selbst davor kannten sie bereits die Bedeutung einiger Begriffe. Den Wortschatz zu erwerben ist ein zentraler Meilenstein in der Sprachentwicklung von Kindern. Daher ist es wichtig, auch die Voraussetzungen zu kennen, die für die Ausbildung eines solchen Repertoires notwendig sind.

Die Entwicklung des Wortschatzes hängt bei Kindern wesentlich davon ab, wie gut sie einzelne Wörter im kontinuierlichen Sprachstrom erkennen. Hierfür müssen Babys zunächst den Anfang (d. h. die erste Silbe) der einzelnen Wörter identifizieren. Die Verarbeitung von Silben ist damit ein ganz entscheidender erster Schritt auf dem Weg zum Wortschatz. Bisherige Studien zeigten, dass Säuglinge bereits kurz nach der Geburt in der Lage sind, Silben voneinander zu unterscheiden – und somit hervorragend für ihre nächsten Entwicklungsstufen vorbereitet sind.

Am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften wollen wir nun noch detaillierter wissen, welche Fähigkeiten es genau in der frühen Entwicklung der Säuglinge sind, die über die Ausbildung des späteren Wortschatzes entscheiden. Bisherige Verhaltensstudien deuten bereits darauf hin, dass sich Babys ab acht Monaten bei der Wortverarbeitung stärker auf Konsonanten fokussieren als auf Vokale.

Bedeutet das wiederum, dass Konsonanten für die Entwicklung des Wortschatzes entscheidender sind als Vokale? Und wenn ja, ab welchem Alter lässt sich diese Rolle von Konsonanten finden? Um diese Fragen zu beantworten, haben Forscher*innen aus dem Labor für Kindersprachforschung gemeinsam mit Forscher*innen der Tagesklinik für Kognitive Neurologie der Universität Leipzig eine Längsschnittstudie mit Säuglingen in deren erstem Lebensjahr durchgeführt.

Was haben wir untersucht?
In der hier vorgestellten Längsschnittstudie wurden Säuglinge im Alter von zwei, sechs und zehn Monaten im Hinblick auf die Verarbeitung von Vokalen und Konsonanten mithilfe der Elektroenzephalographie (EEG) untersucht (siehe Abbildung 1). Dabei wurde die elektrische Hirnaktivität in Reaktion auf Vokal- (/ba/ vs. /bu/) und Konsonantenunterschiede (/ba/ vs. /ga/) gemessen.
Die Eltern schätzten in einem Fragebogen den Wortschatzumfang ihres Kindes im Alter von 12 Monaten ein.

Und was kam heraus?
Unsere Ergebnisse zeigten: Der spätere Wortschatz der 12 Monate alten Kinder lässt sich daran vorhersagen, wie gut sie Konsonanten im Alter von zwei Monaten bereits verarbeiten können. Säuglinge, die im Alter von zwei Monaten eine „reifere“ Gehirnreaktion bei der Konsonanten-Verarbeitung zeigten, hatten einen größeren Wortschatz im Alter von zwölf Monaten (siehe Abbildung 2A). Dabei spielte nicht nur die Verarbeitung im Alter von zwei Monaten eine Rolle, sondern auch deren Entwicklung in den darauffolgenden zehn Monaten. Säuglinge, deren Gehirnreaktion für Konsonanten sich zwischen zwei und sechs Monaten (siehe Abbildung 2B) und zwischen sechs und zehn Monaten (siehe Abbildung 2C) stärker in Richtung einer „reiferen“ Reaktion herausbildete, zeigten später ebenfalls einen größeren Wortschatz.
Für die Verarbeitung von Vokalen zeigte sich dieser Zusammenhang mit dem späteren Wortschatz nicht.

Und was bedeutet das?
Unsere Studie zeigt, dass Konsonanten im Vergleich zu Vokalen im frühkindlichen Wortschatzerwerb eine besondere Rolle einnehmen. Mithilfe der Erfassung der Hirnaktivität – einer Methode, die bereits bei Neugeborenen angewendet werden kann, – haben wir herausgefunden, dass die Verarbeitung von Konsonanten bereits früher für den Wortschatzerwerb relevant ist, als man es bisher aufgrund von Verhaltensstudien angenommen hatte. In nachfolgenden Studien soll nun unter anderem untersucht werden, wie lange den Konsonanten in der Sprachentwicklung eine besondere Rolle zukommt, das heißt bis zu welchem Alter sich ein „reiferer“ Start in der Verarbeitung von Konsonanten noch im Wortschatzerwerb bemerkbar macht.


Dem kindlichen Spracherwerb auf der Spur

Wenn Sie schon einmal eine Fremdsprache gelernt haben, dann wissen Sie, wie mühsam es ist, sich Vokabeln und Grammatik anzueignen. Im Gegensatz dazu erwerben Kinder ihre Erstsprache scheinbar mühelos und ohne explizite Anweisungen. Bereits mit vier Jahren sprechen viele Kinder meist fehlerfrei und greifen auf einen großen Wortschatz zurück. Doch wie kann das Gehirn das leisten?

Bei dem Wort „Grammatik“ denken viele Menschen an ihre Schulzeit zurück und an das anstrengende Auswendiglernen komplizierter Regeln. Grammatik ist jedoch essenziell für unsere sprachliche Verständigung. Die einzelnen Wörter tragen zwar die Bedeutung des Satzes, aber erst die Grammatik setzt die Wörter in Beziehung zueinander und an ihren richtigen Platz. Bei der Aussage „Der Hund der Hase ziehen“, in der nur die Grundform der Wörter verwendet wird, würden wir wahrscheinlich denken, der Hund zieht den Hasen. Erst wenn wir grammatikalische Regeln anwenden und aus denselben Wörtern den Satz „Den Hund zieht der Hase“ bilden, wird klar, genau das Gegenteil ist der Fall. Kinder müssen diese Regeln erst lernen und meistern dies, ohne dass sie ihnen jemand explizit erklärt. Bis zu ihrem dritten Geburtstag können Kinder zwar schon einfachere Regeln anwenden, aber erst ab dem vierten Lebensjahr fangen sie an, auch kompliziertere Sätze zu verstehen und zu produzieren. Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, welche Reifungsprozesse im Gehirn mit diesem Meilenstein in der Sprachentwicklung einhergehen.

Was haben wir untersucht?
Für die Studie haben wir den grammatikalischen Sprachstand von Kindern zwischen drei und vier Jahren sowohl beim Verstehen als auch beim Sprechen von Sätzen mit Hilfe von unterschiedlichen Sprachspielen erfasst.
Im Satzverständnis-Spiel hörten die Kinder einen Satz (z. B. „Leg‘ den blauen Stift unter den Sack!“) und sollten den Anweisungen im Satz folgen. Dazu hatten sie verschiedene Gegenstände zur Auswahl. Die Grammatik des Satzes wurde von Mal zu Mal komplexer, die Aufgabe für die Kinder somit immer herausfordernder. Wir beobachteten, bis zu welchem Komplexitätsgrad die Kinder die Anweisung befolgen konnten, also den Satz mit seiner komplexen Grammatik verstanden hatten.
In zwei Satzproduktions-Spielen beschrieben die Kinder entweder komplexe Bilder mit ihren eigenen Worten oder wiederholten einen vorgegebenen Satz, der so lang war, dass die Kinder ihr grammatikalisches Wissen verwenden mussten, um ihn zu rekonstruieren. Wir beobachteten, ob die Kinder in der Lage waren, lange Sätze zu produzieren, die grammatikalisch korrekt waren. Zusätzlich absolvierten die Kinder weitere Spiele, die die allgemeine Sprachfähigkeit der Kinder testen sollten.

Neben der Sprachfähigkeit wurde auch ein Bild des Gehirns der Kinder im Magnetresonanztomographen (MRT) aufgenommen, um den Reifestand bestimmter Hirnareale zu bestimmen. Dazu kamen die Kinder ein weiteres Mal zu uns ans Institut und wurden spielerisch an das MRT herangeführt. Weitere Informationen zu MRT-Messungen mit Kindern finden Sie hier.

Was geht nur in deinem Kopf vor? Wie Hirnforschung neue Einblicke in die kindliche Entwicklung ermöglicht.
Wenn Sie mehr über unsere MRT-Studien mit Kindern erfahren wollen, lesen Sie bitte auch hier. mehr

Und was kam heraus?
Die Entwicklung der allgemeinen und grammatikalischen Sprachfähigkeit der Kinder ging mit der Reifung von Hirnstrukturen innerhalb des sogenannten ‚Sprachnetzwerks‘ einher (in der Abbildung in Gelb dargestellt). Bei Erwachsenen wurde bereits mehrfach gezeigt, dass in diesem Netzwerk verschiedene Hirnareale zusammenarbeiten, um Sprachverständnis und -produktion zu ermöglichen. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die Reifung des Sprachnetzwerkes auch den allgemeinen Sprach- und speziell den Grammatikerwerb bei Kindern zwischen drei und vier Jahren unterstützt.

Dabei hingen die grammatikalischen Fähigkeiten der Dreijährigen vor allem mit der Reifung des sogenannten hinteren Sulcus temporalis superior zusammen (in Rot dargestellt). Bei den Vierjährigen standen sie dagegen vor allem mit der Entwicklung des Pars opercularis in Verbindung (in Blau dargestellt). Wir wissen aus vorangegangenen Studien mit Erwachsenen, dass beide Hirnregionen bei der Verarbeitung von Sätzen mitwirken. Der Pars opercularis ist Teil des Broca-Areals, einer Hirnregion, die bereits im 19. Jahrhundert entdeckt wurde und eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung komplexer Grammatik spielt.

Und was bedeutet das?
Unsere Studie zeigt, dass die Entwicklung der allgemeinen und grammatikalischen Sprachfähigkeit von Drei- bis Vierjährigen mit der Reifung von Hirnarealen innerhalb des Sprachnetzwerkes einhergeht, das auch bei Erwachsenen für das Verstehen und Produzieren von Sprache verantwortlich ist. Insbesondere zeigte sich, dass die Reifung von Regionen innerhalb des Broca-Areals – einer Kernregion für Grammatik – mit den Grammatikfähigkeiten der vierjährigen Kinder zusammenhing, nicht aber mit den Grammatikfähigkeiten der Dreijährigen. Dieser Befund ist besonders spannend, da Kinder erst ab dem vierten Lebensjahr lernen, komplexere Satzstrukturen zu verstehen und zu produzieren. Unsere Ergebnisse deuten also darauf hin, dass dieser Meilenstein im Spracherwerb erst durch die Unterstützung des Broca-Areals bei der Verarbeitung komplexer Grammatik ermöglicht wird. Damit liefern unsere Befunde neue Einblick in die neuronalen Prozesse, die zu einer erfolgreichen Sprachentwicklung beitragen. Erkenntnisse wie diese sind sehr wichtig, denn sie ermöglichen auch ein besseres Verständnis für Entwicklungsverzögerungen oder sogar -störungen im Spracherwerb. In unseren neuen Studien möchten wir daher der kindlichen Sprachentwicklung weiter auf den Grund gehen.

Spracherwerb und das Erlernen sozialer Fähigkeiten
Alter: 3–6 Jahre | Methoden: spielerischer Test, MRT, fNIRS
Wir suchen Kinder im Alter von 3–6 Jahren. mehr
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